Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
einflussreiches Handbuch, die sog. Logik von Port-Royal, genauer: La logique ou l’art de penser von Antoine Arnauld und Pierre Nicole (1662), in der die Logik mit ihren Operationen des Begreifens, Urteilens, Schließens und Ordnens als reine, von allen für Aristoteles bedeutsamen Argumentationszusammenhängen losgelöste subjektive Grundoperationen des Verstandes angesehen wurden, entsprechend der durch Descartes eingeleiteten subjektiven Wende (cogito ergo sum). Zusammen mit der Logica Hamburgensis von Joachim Jungius (1635–1638) lebte so die Syllogistik des Aristoteles als Schule des Denkens fort, um bei Kant in eine Krise zu geraten. In dem Abschnitt über die Grenzen der Logik in der Vorrede zur 2. Auflage (1787) der Kritik der reinen Vernunft und in dem Hauptstück Von dem Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe bemängelt Kant, die aristotelischen Kategorien seien «rhapsodistisch», aus einer auf gut Glück unternommenen Aufsuchung entstanden, und in der 1762 erschienenen Schrift Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren wollte Kant einen Mangel an Systematik und ein Ungenügen der Syllogistik für die objektive Weltbeschreibung betonen. Die Wissenschaftslehre der Philosophen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist entsprechend in Ansatz und Methode von der aristotelischen Logik weit entfernt. Das gilt auch noch für die von Gottlob Frege begründete moderne mathematische Logik ( Begriffsschrift 1879) mit der der Arithmetik nachgebildeten «Formensprache des reinen Denkens». Mit dem Erscheinen der grundlegenden Ausgabe («Akademie-Ausgabe») der Werke des Aristoteles durch Immanuel Bekker (1831) war inzwischen eine verlässliche Textbasis verfügbar, die die Möglichkeit der Rückbesinnung auf die aristotelische Logik eröffnete. Neben dem nun einsetzenden interpretatorischen Bemühen gibt es dann (ab ca. 1920) Konzeptionen einer mehrwertigen und einer operativen Logik, die im Grundgedanken wieder auf Aristoteles zurückführen.[ 18 ] Das gilt vor allem für die mehrwertige Logik von Jan Lucasiewiez (1876–1956), die von einer dreiwertigen Logik (wahr, neutral, falsch) ausgeht, und für die von Paul Lorenzen (1915–1994) in zahlreichen Arbeiten begründete operative Logik mit der Theorie des Kalküls, die Kurt Ebbinghaus (1964) wieder stärker an die aristotelische Syllogistik herangeführt hat. Eine so entwickelte dialogische Logik kommt der Eigenart der aristotelischen dialektischen Syllogistik als Entscheidungsverfahren in der wissenschaftlichen Problemerörterung wieder näher. Die spezifische Leistung des Aristoteles als des Begründers der abendländischen Logik wird in diesen modernen Ausprägungen einer Logik und auch in vielen intensiven Interpretationen der aristotelischen Syllogistik durch die Logik experten unter den Philosophiehistorikern[ 19 ] eindrucksvoll sichtbar.
8.
M ETAPHYSIK – E RSTE P HILOSOPHIE
D IE G RUNDLAGEN
Die in 14 Bücher eingeteilte Metaphysik ist kein in sich geschlossenes, zusammenhängendes Werk. Auch der Begriff «Metaphysik» stammt nicht von Aristoteles. Vielmehr hat der erste Herausgeber des aristotelischen Werkes, Andronikos von Rhodos, mehrere Einzelabhandlungen aus dem Bereich, den Aristoteles «erste Philosophie» nennt (Met. VI 1, 1026 a 16; Phys. I 9, 191 a 36; II 2, 194 b 17), zusammengefasst und «Schriften nach der Physik»genannt, weil er diese Abhandlungen hinter die naturwissenschaftlichen Schriften gestellt hat. Die zunächst nur editionstechnische Bezeichnung des Titels ist dann bei den Aristoteleskommentatoren (zuerst belegt bei Simplikios im 6. Jh.) verstanden worden als ein Schriftenkomplex, der Themen behandelt, die «jenseits der Natur» liegen. Damit ist der Grund für die Benennung des Gebietes der Philosophie gelegt, das in das abendländische Denken unter dem Namen «Metaphysik» eingegangen ist.
Ein erster Überblick über die 14 Bücher zeigt, dass Andronikos nicht ungeschickt vorgegangen ist. Denn die ersten Bücher ABT (= I, III, IV)[ 1 ] bilden eine Art Voruntersuchung über die «gesuchte Wissenschaft»III 1, 995 a 24), die dann später (VI 1, 1026 a 16) «erste Philosophie» genannt wird. Nach einer umfangreichen Doxographie (Buch I) formuliert Aristoteles 15 Aporien (Buch III) bezüglich der Wissenschaft vom Seienden, die nur vorläufig und ohne eindeutiges Ergebnis diskutiert werden entsprechend der Bedeutung, die Aristoteles der Aporie als Voraussetzung für Lösungen und
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