Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
gezogen werden. Der Denkprozess kann auch in die entgegengesetzte Richtung gehen, nämlich von einem gegebenen Schlusssatz als einer vorher bekannten Tatsache die passenden Prämissen aufzufinden, die dann die wissenschaftliche Erklärung für die schon vorher bekannte Tatsache bilden. Diesen umgekehrten Weg nennt Aristoteles in der Topik (I 12, 105 a 13f.) «Epagoge»«Induktion». Aristoteles entwirft indes keine zusammenhängende Theorie der Epagoge und verwendet diesen Begriff (auch in der verbalen Form) in den Analytiken (An. Pr. II 23, 68 b 15ff.; An. Po. I 18, 81 a 38ff.; II 19, 100 b 3) zudem im Sinne eines wörtlich verstandenen «Heranführens» genuiner Einzelfälle zur Gewinnung eines aktuellen Wissens um Einzelnes, das dann aber auch zur Einsicht in einen allgemeinen Zusammenhang führt. Aristoteles ist der Meinung, dass es im Bereich der Wissenschaften unbeweisbare Wahrheiten, formulierbar als evidente Prämissen, geben muss, die die menschliche Seele kraft einer ihr innewohnenden intuitiven Fähigkeit aus Einzelfällen zu erfassen in der Lage ist, wenn ein bestimmter Hinweis erfolgt. Eine so verstandene Induktion ist dann nicht eigentlich das Gegenstück des deduktiven syllogistischen Verfahrens, sondern ergänzt dieses, indem es die Voraussetzungen bewusst macht, unter denen die Syllogistik erst möglich ist und einsichtig wird.
Damit ist bereits der Grundgedanke der Analytica Posteriora genannt, die sich gleich am Anfang als Wissenschaftstheorie erweisen, bezogen auf das Wesen einer streng beweisenden Wissenschaft.[ 15 ]
Jede Unterweisung und jedes verständige Erwerben von Wissen entsteht aus bereits vorhandener Kenntnis. Denn sowohl die mathematischen Kenntnisse wie die praktischen Wissensformen kommen auf diese Weise zustande … Denn es ist notwendig, bereits von einigen Dingen im Voraus anzunehmen, dass sie sind, von anderen zu verstehen, was das Gesagte ist … wie etwa von dem Umstand, dass man wahrheitsgemäß alles entweder bejaht oder verneint, dass es (das Bejahte oder Verneinte) ist; vom Dreieck, dass es dies (ein Dreieck) bezeichnet (An. Po. I 1, 71 a 1–16).
Es geht Aristoteles um die Möglichkeiten und Bedingungen von Wissen und Wissenschaft generell. Dazu gehört zum einen die Annahme von wahren, unmittelbar evidenten, unbeweisbaren Sätzen, aus denen auf dem Wege der Syllogistik wissenschaftlich gültige Schlüsse erzielt werden können, zum anderen um die methodisch abgesicherte, im Sinne eines Aufstiegs zu den Prinzipien verstandene Einsicht in die obersten Prinzipien. Indessen geht es in den Analytica Posteriora nicht in erster Linie um Methoden und Vorschriften zum Zweck der Gewinnung vorher unbekannter wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern um die wissenschaftliche Explikation bereits entdeckter und etablierter Resultate in einer syllogistisch einwandfreien Gestalt und Struktur. Axiomheißt in der Topik «Forderung» des Dialogpartners nach einer allgemein akzeptierten Grundlage einer Diskussion (Top. VIII 1, 156 a 23; 13, 163 a 3ff.), während darunter in den Analytica Posteriora der wahre, selbstevidente, nicht weiter ableitbare Ausgangssatz der beweisenden Wissenschaft verstanden wird, so in erster Linie der Satz vom Widerspruch (P kann einem Subjekt nicht zugleich zukommen und nicht zukommen), der ihm als der sicherste aller Axiome gilt und den Aristoteles auch in der Metaphysik (Buch IV) in seinen logischen, kosmologischen und ontologischen Konsequenzen untersucht, ferner der Satz vom ausgeschlossenen Dritten.
Dabei orientiert sich Aristoteles im ersten Buch der Analytica Posteriora vornehmlich am Modell der Geometrie, während im zweiten Buch die Frage nach der Ursache im Bereich von Physik und Astronomie in zahlreichen, jetzt wieder verstärkt auftretenden Beispielen im Vordergrund steht.
War schon in der Topik die Sammlung des Materials und dessen Verarbeitung zu einer Analyse des dialektischen Syllogismus eine eindrucksvolle Leistung, so ist die Denkleistung des Aristoteles in den Analytiken geradezu ungeheuer. Sie zeigt sich vor allem in einem stupenden Grad an Abstraktion in dem Entwurf einer formalen und modalen Logik, die es so vorher nicht gegeben hat. Dass dazu Scharfsinn und blitzschnelles Erfassen eines logischen Sachverhaltes gehören, sagt Aristoteles selber (An. Po. I 34, 89 b 10).
Trotz dieses abstrakt konstruierten logischen Baus steht die Syllogistik im Diskussionszusammenhang der Akademie. Der Gedanke, dass jedes Wissen an vorangegangenes Wissen
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