Arkadien 01 - Arkadien erwacht
Lichter eines Frachters auf der unsichtbaren Grenze zwischen Ozean und Sternenhimmel.
Aus dem Pool der Dallamanos war schon vor Jahren das Wasser abgelassen worden. In riesigen Terrakotta-Kübeln standen eingegangene Pflanzen. Ein Haufen alter Regalbretter lehnte an der Hauswand. Früher, als der Clan noch hier gelebt hatte, musste das Gebäude scharf bewacht worden sein; heute gab es nicht einmal eine Alarmanlage. Vermutlich rechnete niemand ernsthaft mit einem Diebstahl wissenschaftlicher Enzyklopädien und Sammelwerke.
Irgendwo bellte ein Hund, weiter die Straße hinunter, auf einem der angrenzenden Villengrundstücke.
Am Nachmittag hatte Alessandro in der Stadt einen langen Schraubenzieher, einen Gummihammer und eine Taschenlampe gekauft. Jetzt hebelte er mühelos eines der hohen Fenster im Erdgeschoss auf.
»Das war nicht das erste Mal, oder?«, flüsterte Rosa.
»Wenn man in einer Burg voller Mafiosi aufwächst, lernt man eine Menge seltsames Zeug.«
»Praktisch.«
»Du hast mir erzählt, du kannst Autos knacken.«
Sie hob die Achseln. »Brooklyn.«
Vorsichtig kletterten sie ins Innere. Rosa schob das Fenster hinter sich zu, bis es lautlos gegen den Rahmen stieß.
Die einzigen Lichter im Haus waren die Notausgangschilder über den Türen. Alessandro ließ die Taschenlampe aufflammen. Ihr Schein huschte über hohe Bücherregale, Fresken an den Wänden und ein paar Büsten und Statuen auf steinernen Sockeln.
Die beiden durchquerten leise die unteren Räume. Überall roch es angenehm nach altem Papier.
Sie folgten der Wegbeschreibung, die Augusto Dallamano Rosa gegeben hatte, fanden die Kellertür und am Fuß der Treppe einen Gang zu einigen überfüllten Abstellräumen. Hier war alles voller Bücher, verstaubter Folianten und Kartons. Im Schein der Taschenlampe betraten sie den dritten Raum auf der rechten Seite und fanden rasch das kopfgroße Abflussgitter im Boden. Alessandro löste die Schrauben, zog es beiseite und steckte, ohne zu zögern, die Hand in das dunkle Viereck. Rosa sah zu, wie er die Wände des schmalen Schachts betastete, schließlich eine Öffnung fand und darin – genau wie beschrieben – auf einen Hebel stieß. Früher hatte es eine Fernbedienung für den Mechanismus gegeben, aber die war mit dem übrigen Besitz der Familie verschwunden. Dies hier war nur ein Notbehelf; aber der reichte völlig aus.
Alessandro fluchte leise, als der Hebel klemmte. Er versuchte es mehrfach, ehe er auf den Gedanken kam, den Fuß zu benutzen. Tatsächlich entpuppte sich der Hebel als Pedal, das er von oben mit der Fußspitze erreichen und nach unten drücken konnte.
Ein Knirschen ertönte, dann erwachte mit einem Summen ein verborgener Motor in der Wand zum Leben. Augenblicke später glitt in der gekachelten Rückwand des Raumes ein türgroßes Rechteck zur Seite.
Dahinter herrschte Dunkelheit; natürlich, sie befanden sich unter der Erde. Erst bei einem Blick auf den Stahlkern der mechanischen Schiebetür wurde Rosa bewusst, dass es sich keineswegs nur um ein Geheimzimmer handelte.
Es war ein Bunker. Ein privater Atombunker, wie ihn sich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts viele Wohlhabende auf der ganzen Welt hatten bauen lassen. Später, als die Angst vor einem nuklearen Krieg allmählich wieder aus den Köpfen der Menschen verschwunden war, musste Ruggero Dallamano ihn zu einem zweiten Büro umgerüstet haben. Von hier aus hatte er gewiss nicht seine legalen Bauprojekte gesteuert, sondern jene Geschäfte, die ihn zu einem der einflussreichsten capi Siziliens gemacht hatten.
Die neunjährige Iole musste von diesem Versteck gewusst haben. Wahrscheinlich hatte sie sich während des Massakers an ihrer Familie hier unten versteckt. Wie sie ihren Unterschlupf mit den beiden Fotos ungesehen wieder verlassen hatte, konnte Rosa nur mutmaßen. Vielleicht hatte sie geglaubt, die Mörder ihrer Eltern wären bereits verschwunden, und war ihnen geradewegs in die Arme gelaufen. Fest stand, dass die Carnevares den Bunker nicht entdeckt hatten, sonst wäre er zweifellos geplündert worden.
Alessandro leuchtete in die Finsternis. »Gehen wir rein?«
Der vordere der beiden Räume war voller Aktenschränke mit Hängeregistraturen, aus denen Dokumente, Zeitungsausschnitte und Urkunden quollen. Rosa warf einen flüchtigen Blick auf ein paar davon, erkannte keinen der Namen und betrat vor Alessandro den zweiten Raum.
Ihre Hand ertastete einen Wandschalter. Mehrere Röhren
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