Arkadien 01 - Arkadien erwacht
einquartieren könnte.« Sie lachte nicht mehr, als sie sagte: »Das haben sie ja nicht mal mit uns beiden geschafft.«
»Und die Wahrheit?«
»Offiziell wohnen sie alle dort drüben und züchten Rinder oder Schafe. In Wahrheit aber waren wohl eher sie selbst die Schafe. Die Wölfe sind gekommen und haben sie gerissen. Tiger und Löwen, um genau zu sein.«
Rosa verdrängte ihre Erinnerung an die Erscheinung im Olivenhain. »Die Carnevares haben sie umgebracht? Du weißt, wie das klingt, oder?« Dann dachte sie an die Mädchen auf der Insel mit ihren Maschinenpistolen. »Sie haben sie im See ertränkt?«
Zoe pickte ein winziges Steinchen von der Brüstung und warf es in die Tiefe. Sein Aufschlag auf dem Wasser war nicht zu erkennen. »Ertrunken sind sie nicht. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Offenbar sind sie einfach verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Die Staumauer war zu diesem Zeitpunkt bereits so gut wie fertig. Giuliana lag unten im Tal in ihrem Schatten.« Zoe deutete hinab in die Tiefen des Sees. »Und da liegt es heute noch. Wahrscheinlich gilt das auch für seine Bewohner. Wenn du mich fragst: Ich wette, dass ihre Leichen nicht die einzigen da unten sind. Hast du gewusst, dass die Carnevares so was wie die Totengräber der Cosa Nostra sind? Wenn eine der anderen Familien jemanden verschwinden lassen möchte, dann sind sie diejenigen, die man um Hilfe bittet. Straßen, Rollbahnen der Flughäfen, sogar Verwaltungsgebäude in Catania und Palermo. Cesare Carnevares Leute füllen ihre Fundamente nicht nur mit Beton.«
Das also war das Erbe, das Alessandro so wichtig war. Umdas er bis aufs Blut mit Tano und dessen Vater kämpfte. Leichenentsorgung unter Häusern und Autobahnen. Entvölkerte Dörfer am Grund stiller Seen.
Rosa kletterte auf die Brüstung, machte einen Schritt nach vorn und stand jetzt unmittelbar an der Steinkante. Die Oberfläche des Stausees lag etwa zwanzig Meter unter ihr.
»Komm da runter«, sagte Zoe.
Rosa schüttelte die Hand an ihrer Wade ab. »Nein. Komm du rauf zu mir.«
Zoe sah einen Moment lang wütend aus, dann atmete sie durch und brachte ein Lächeln zu Stande. Sie ergriff die Hand, die Rosa ihr entgegenstreckte, und kletterte auf die Mauer. Seite an Seite blieben sie stehen, nur einen Fingerbreit vor dem Abgrund, während der Wind in ihre Kleidung fuhr und ihr Haar zerzauste.
»Warum hast du mir das erzählt?«, fragte Rosa leise. »Ich meine, wirklich.«
»Weil Alessandro Carnevare nicht –«
»Weil Florinda es dir gesagt hat? Hat sie sich diese Geschichte einfallen lassen?«
»Sie ist wahr, Rosa.«
»Vielleicht ist sie das sogar. Aber soll mich das jetzt erschrecken? Soll ich ihn deshalb hassen? Ich hab genau gewusst, wohin ich gehe, als ich ins Flugzeug nach Italien gestiegen bin. Glaubst du, ich bin so naiv? Glaubt Florinda das? Ich weiß, wer und was unsere Familie ist. Und ich weiß, dass sie kein Stück besser ist als die Carnevares und die Riinas und wie sie alle heißen. Du und ich, wir sind ein Teil davon.«
»Du weißt ja gar nicht, wovon «, flüsterte Zoe in den Wind.
»Ich glaube schon.« Rosa tastete nach der Hand ihrer Schwester, etwas, das sie zuletzt getan hatte, als sie ein Kind gewesen war. »Aber anderswo sind andere Verbrechen geschehen, die wir zu verantworten haben. Unsere Familie. Unser Vater wahrscheinlich. Was erwartet Florinda? Dass wir uns in anständige Jungs aus gesetzestreuen, angesehenen Familien aus Turin oder Mailand verlieben? Oder dass wir ein Leben lang allein bleiben, wie sie?«
Zoes Hand war eiskalt. »Du kannst das nicht verstehen. Noch nicht.«
»Weißt du«, sagte Rosa bedrückt, »ich hab kein schlechtes Gewissen, keine Skrupel wegen dem, was den Leuten von Giuliana vielleicht zugestoßen ist. Weil ich eine Alcantara bin und das nicht ändern kann. So wie Alessandro nicht ändern kann, was er ist.«
Zoe öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber dann kam kein Laut heraus, sie befeuchtete nur die Lippen mit der Zungenspitze und schwieg.
»Da war nichts auf der Insel«, sagte Rosa und blinzelte wieder in den Glitzerteppich auf dem Wasser. »Nicht, was ihr denkt.«
Sie schwieg eine Weile und sah in die Ferne zum anderen Ufer des Stausees.
»Nichts«, flüsterte sie noch einmal, und diesmal war es nicht Zoe, die sie damit überzeugen wollte.
Tiger und Schlange
E s wurde bereits dunkel, als sie zum Palazzo zurückkehrten. Allein in ihrem Zimmer, wählte Rosa Alessandros Nummer. Eine Stimme vom Band
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