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Arkadien 01 - Arkadien erwacht

Titel: Arkadien 01 - Arkadien erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Tiger war nicht zu übersehen. Sie hatte immer geglaubt, Raubkatzen seien elegant und geschmeidig, aber was da in der Dunkelheit stand, war gewaltig, ein Berg aus Muskeln und gelb-schwarzem Fell, mit weißer Zeichnung rund um das Maul. Der Tiger fletschte seine Fangzähne.
    Sie hätte überrascht sein müssen. Zu Tode erschrocken.
    Aber sie war nichts von beidem.
    Sie kommen nachts.
    Das Knurren wurde zu einem tiefen Grollen.
    Immer nachts.
    Der Tiger vollendete die Runde um seine Beute, während sie sich mit ihm drehte und ihn nicht aus den Augen ließ. Einige Meter weiter oben am Hang überquerte er den Pfad und glitt wieder zwischen die Bäume zu ihrer Linken. Er näherte sich, aber nicht auf direktem Weg, sondern in einer Spirale, die allmählich den Abstand zwischen ihnen verringerte.
    Noch eine Runde, dann eine weitere.
    Als er zum dritten Mal vor ihr den Pfad überquerte, war er nur noch wenige Meter entfernt. Die Bedrohung, die von ihm ausging, hatte etwas Hypnotisches. Rosa hörte jetzt auf, sich zu drehen, stand da, mit dem Gesicht zur Schlucht, und es fiel ihr sonderbar schwer, über einen Fluchtversuch auch nur nachzudenken.
    Er war sicher zehnmal so schnell wie sie. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance.
    Das Knistern seiner Raubkatzenschritte auf trockenen Piniennadeln verstummte. Genau hinter ihr, in ihrem Rücken. Sie konnte seinen Atem riechen. Er roch nach Wildheit. Nach animalischer Kraft. Nach der Gewissheit, dass er mit ihr tun konnte, was er wollte, und dass sie ihm nichts entgegenzusetzen hatte. Und obwohl sie wusste, dass er den menschlichen Raubtieren, denen sie früher begegnet war, haushoch überlegenwar, spürte sie noch immer keine Furcht. Vielleicht waren einfach nur alle ihre Sinne betäubt, auch jene, die Panik auslösten.
    Ganz langsam wandte sie sich zu ihm um.
    Er stand da, zwei Meter höher auf dem Pfad, den riesenhaften Körper angespannt, den Schädel gesenkt. Er starrte sie an.
    Sie erinnerte sich an diesen Blick.
    Sie erkannte seine Augen.
    Noch immer verspürte sie keinen Drang, zu schreien oder wegzulaufen. Dennoch setzte sie sich in Bewegung und ging rückwärts, vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen. Und wunderte sich, dass sie ihn nicht schon eher wiedererkannt hatte.
    Er würde sie töten. Deshalb war er hergekommen.
    Man hatte ihr schon einmal Schlimmes angetan und seither war sie bereit, sich zur Wehr zu setzen. Ganz gleich, gegen wen oder was. Aber weshalb breitete sich heute statt heißer Wut eine sonderbare Kälte in ihrem Körper aus?
    Der Tiger folgte ihr. Langsam, geduckt kam er den Pfad herab, hielt einen gleichbleibenden Abstand von wenigen Metern. Ihre Füße tasteten im Rückwärtsgehen nach Halt auf dem federnden Waldboden. An dieser Stelle war der Weg steil. Beim kleinsten Fehltritt würde sie stürzen. Die Schlucht war nicht weit hinter ihr, vielleicht zehn Schritt.
    Sie sah ihm an, dass er seine Überlegenheit genoss. Er beobachtete sie, schien auf etwas zu warten. Darauf, dass sie endlich panisch wurde? Das Eis in ihren Adern verhinderte das.
    Sie begann zu zittern, als die unnatürliche Kälte von ihrem ganzen Körper Besitz ergriff. Der Tiger schien es zu bemerken und verengte die Augen. Sie rechnete damit, dass er sich im nächsten Augenblick auf sie stürzen würde.
    Rosa öffnete den Mund.
    Ein Zischen ertönte. Einen Moment lang glaubte sie, sie selbst hätte es ausgestoßen.
    Hinter dem Tiger erwachte der dunkle Pfad zum Leben.Seine Windungen erbebten, der Boden bewegte sich, Schatten glitten den Berg herab.
    Rosa blieb stehen. Der Tiger aber näherte sich. Setzte zum Sprung an.
    Mit einem Mal löste sich die Dunkelheit vom Boden, ein schwarzes Band richtete sich hinter der Raubkatze auf, und noch immer sah es aus wie der Pfad selbst, der jetzt endgültig seinen Verlauf änderte, sich über den Tiger schob und ihn packte .
    Die Bestie stieß ein schneidendes Fauchen aus, als sie erkannte, dass sie von hinten angegriffen wurde. Die Finsternis wickelte sich um den Leib des Tigers. Ihr vorderes Ende klaffte auf, zwei Augen blitzten im Mondschein wie mandelförmiges Gold. Das Maul, das plötzlich über dem Nacken der Raubkatze schwebte, schoss herab.
    Der Tiger war um den Bruchteil eines Herzschlags schneller. Er warf sich zur Seite, prallte mit dem Rücken gegen einen Baum und quetschte den Angreifer zwischen seinem zentnerschweren Leib und dem Stamm ein. Das Ding hatte zum Biss angesetzt, aber der Aufprall ließ seine Kiefer ins Leere

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