Arkadien 01 - Arkadien erwacht
sprang.
Der Aufprall war viel härter, als sie befürchtet hatte. Als würden die Beine in ihren Unterleib gerammt. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel nach vorn, stützte sich mit den Händen ab und landete auf den Knien. Schroffes Lavagestein schmirgelte durch ihre Strumpfhosen und schürfte ihre Haut auf. Erst spürte sie nichts, dann brannte es wie Feuer, und da wusste sie, ohne hinzusehen, dass sie blutete.
Wenn die Tiere erst einmal die Witterung aufgenommen hatten, würden sie sich nicht mehr ablenken lassen.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte Alessandro von oben.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht stemmte sie sich hoch, schwankte einen Moment und blieb dann aufrecht stehen. Ihre Füße taten weh, ihre Beine, ihre Hüften. Aber als sie sich vorsichtig bewegte, war nichts gebrochen, nichts verstaucht.
Blinzelnd sah sie zum Fenster hinauf und trat zur Seite. Alessandro schaute hinter sich und schien es mit einem Mal noch viel eiliger zu haben. Er stieß sich ab, zog im Sprung ein wenig die Beine an, streckte die Arme schräg nach unten – und landete geschickt auf allen vieren, in der Hocke, mit angewinkelten Knien. Er zuckte nicht einmal, als er sich aufrichtete, ihren ungläubigen Blick mit einem Lächeln quittierte und sie erneut an der Hand nahm und mit sich ziehen wollte. Aber ihre regennassen Finger entglitten seinem Griff und sie folgte ihm, ein wenig stolpernd, mit zusammengebissenen Zähnen. Immerhin konnte sie laufen.
Sie hasteten an der Fassade der Villa entlang, durch eine Art Graben, der auf der einen Seite von der Hauswand, auf der anderen von Felsen begrenzt wurde. Irgendwo im Dunkeln ertönte wieder das Brüllen einer Raubkatze, zwei andere antworteten ihr. Mindestens eine davon war im Freien. Ihr Ruf klang sehr nah.
Sie erreichten das Ende des Seitentrakts. Das Lavagestein links von ihnen stieg hier nicht mehr so steil an. Als Rosa vorsichtig um die Ecke blickte, erkannte sie, dass sie sich an der Vorderseite befanden. Zehn Meter vor ihnen erhob sich die Mauer, die das Gelände umschloss. Das Gittertor zum Vorplatz stand offen, obwohl Alessandro es zugedrückt hatte, als sie angekommen waren.
Rosa sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich. Er wirkte verunsichert und sie fragte sich, ob das an ihren offenen Wunden an den Knien lag. An dem warmen Blut, das durch die zerfetzten Strumpfhosen sickerte. Er hob eine Hand. Ehe sie zurückzucken konnte, strich er ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht, beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Es war kaum mehr als eine flüchtige Berührung, doch aller Protest, der sich in ihr regte, wollte nicht über ihre Lippen kommen.
»Tut mir leid«, flüsterte er. Sie dachte, er meinte den Kuss, aber dann setzte er hinzu: »Dass ich dich hergebracht habe.«
»Ich wollte herkommen«, gab sie tonlos zurück. »Was ist mit Iole? Glaubst du, sie ist noch hier?«
Er schüttelte den Kopf. »Falls sie noch lebt, haben die sie mitgenommen. Vielleicht hab ich mich getäuscht und Cesare hat Wort gehalten. Das wäre was Neues, aber nicht undenkbar.«
»Das ließe es ziemlich dumm aussehen, wenn uns dafür seine Viecher in Stücke reißen.«
»Das werden sie nicht. Vertrau mir.«
Durch die Nässe sah sein Haar wieder pechschwarz aus, wie unten am Strand. Auch seine Augen wirkten dunkler.
Sie deutete zum Gittertor. »Ist das der einzige Weg?«
»Der schnellste. Du musst der Straße folgen. Lauf und schau nicht zurück.«
»Und du?«
»Ich komme nach.«
»Aber warum –«
»Bitte«, sagte er eindringlich. »Lauf einfach nur vor. Und du musst dir den Zahlencode für das Tor unten am Steg merken.« Er nannte ihr eine sechsstellige Zahl. Erst nach einem Augenblick kam sie darauf, dass es sich vermutlich um den Geburtstag seiner Mutter handelte. Es passte, falls die beiden Endziffern eine Jahreszahl bedeuteten.
Dann rannten sie. Aus dem Schutz der Hauswand hinaus auf die freie Fläche zwischen Villa und Mauer, während der Regen ihnen ins Gesicht peitschte und das Brüllen der Kreaturen neuerlich anschwoll.
Einen Augenblick später krachte etwas mit einem furchtbaren Laut von innen gegen das Panzerglas der Fensterfront.
»Schneller!« Alessandro nahm keine Rücksicht mehr darauf, dass er weithin zu hören war.
Sie liefen durch das Tor, überquerten den Vorplatz und bogen auf die Serpentinenstraße. Beim Aufstieg war Rosa die Strecke endlos erschienen, aber jetzt sah sie durch die Dunkelheitund den Regen das Ufer. Doch die Anlegestelle lag weiter nördlich,
Weitere Kostenlose Bücher