Arkadien 01 - Arkadien erwacht
Rennmaschine neben Rosa, weit nach vorn gebeugt, in schwarzem Leder, mit schwarzem Helm. Als Tano ihr das Gesicht zuwandte, erkannte Rosa ihn an seinen Augen.
Sie konnte ihm nicht entkommen. Es gab keine Möglichkeit abzubiegen. Rechts von ihr fiel der Hang jetzt steil ab, links blieb Tano auf einer Höhe mit ihr. Hinter ihr fuhren seine drei Begleiter, alle in dunkler Lederkluft, die Gesichter unter schimmernden Helmen verborgen. Der Lärm ihrer Maschinen war infernalisch. Sie machten sich einen Spaß daraus, die Motoren immer wieder aufheulen zu lassen.
Lilia fuhr noch immer vorneweg, weiter den Berg hinauf. Mehrfach blickte sie über die Schulter, mit versteinerter Miene. Auf ihren Motorrädern wäre es den vier Carnevares ein Leichtes gewesen, die beiden Vespas abzudrängen, die Böschung hinunter. Aber sie attackierten sie nicht, folgten ihnen nur und an Tanos Augen sah Rosa, dass er hinter seinem Helmvisier lachte und die Macht genoss, die er über sie besaß.
Rosas Hände krallten sich fester um den Lenker. In ihren Albträumen hatte sie tausendmal erlebt, was damals nach der Party im Village mit ihr geschehen sein mochte, während sie bewusstlos an einem Ort gelegen hatte, über den sie bis heute nichts wusste. Sie hatte sich verzerrte Männerfratzen vorgestellt, verschwitzte Körper. Gelächter, heiseres Stöhnen.
Aber insgeheim dachte sie, dass es wahrscheinlich ganz anders gewesen war. Teenager, die sich auf einer Party gelangweilt hatten. Vielleicht eine Mutprobe oder ein Aufnahmeritual. Nur ein paar Jungs aus der Nachbarschaft. Und plötzlich wusste sie nicht, was schlimmer war: dass diese vier ihr womöglich das Gleiche antun würden wie die Unbekannten in NewYork oder dass Tano sie mit seinen Tigerkrallen zerfleischen könnte.
Er will dir nur einen Schrecken einjagen. Genau wie in der Nacht im Wald. Das ist alles. Er will dir nur Angst machen, damit du aus Alessandros Leben verschwindest.
Aber dann sah sie wieder seine Augen, das gierige Funkeln darin, und sie erkannte den Blick des Raubtiers, das sie nur als Beute sah. Sie hätten hier anhalten und es hinter sich bringen können. Aber Lilia fuhr immer weiter und auch Rosa war nicht bereit, einfach aufzugeben, mochte diese Flucht noch so sinnlos sein. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance und jeder Meter, den sie fuhren, zögerte das Unvermeidliche nur hinaus.
Der Weg gabelte sich erneut. Links führte er noch höher hinauf, rechts verschwand er in einer weiten Kurve auf der anderen Seite des Berges. Lilia nahm die rechte Abzweigung und Rosa folgte ihr. Hinter ihr jaulten die Motoren der anderen, aber Tano verzichtete auf solche Spielereien. Er fuhr immer neben ihr her und jedes Mal, wenn er herübersah, lachten seine Augen, lachten kalt und stumm und ohne Erbarmen.
Vor ihnen erschien eine hohe Mauer aus sandfarbenem Bruchstein. Davor stand ein einzelner Olivenbaum, bucklig und vorgebeugt.
Sie rasten an der Mauer und dem Baum vorüber, in einem engen, lärmenden Pulk, und nun öffnete sich der Weg zu einem weiten Platz, einer gewaltigen Kerbe im Bergrücken, von der aus sie einen schnellen Blick auf die mondbeschienene Landschaft erhaschten. Zur Linken sah Rosa in einem Halbrund angelegte Stufen, die sich den Hang hinaufzogen.
Ein antikes Amphitheater.
Eine der griechischen Ruinen, von denen es so viele auf Sizilien gab, die meisten für Besucher erschlossen und restauriert, einige aber, wie diese hier, verfallen und in Vergessenheit geraten. Unkraut wuchs auf den steinernen Sitzreihen, hohe Büsche wippten im Wind wie erwartungsvolle Zuschauer.
Lilia raste auf die unterste Reihe zu, bremste scharf und wollte zu Fuß die Treppe hinauf fliehen. Aber eines der Motorräder beschleunigte und schnitt ihr mit einer Vollbremsung den Weg ab. Staub und Steinchen spritzten unter den Reifen hervor. Lilia fluchte.
Rosa presste die Zähne aufeinander, holte tief Luft, ignorierte Tano – und hielt mit Vollgas auf die Maschine zu, die Lilia den Weg versperrte. Im letzten Moment bremste sie ab, aber die Vespa hatte noch immer genug Wucht, um das Motorrad beiseitezuschleudern. Der Fahrer brüllte unter seinem Helm, als er unter der schweren Maschine eingequetscht wurde. Rosa wurde ebenfalls aus dem Sattel gerissen, schürfte sich beim Sturz die Ellbogen auf, kam aber gleich wieder auf die Beine.
Lilia nutzte ihre Chance, lief an dem gestürzten Motorrad vorbei und rannte die Stufen zwischen den steinernen Tribünen hinauf. Rosa wollte ihr folgen, aber
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