Arm und Reich
sonstige Verwendbarkeit. Neuguineer berichteten mir auch über rund ein Dutzend verschiedene Gesteinsarten ihrer Umgebung, deren Härte, Farbe, Verhalten, wenn man sie zerschlägt, und Verwendbarkeit. All dieses Wissen wird durch Beobachtung und Ausprobieren erworben. Ich erlebe den Prozeß des »Erfindens« jedesmal aufs neue, wenn ich Neuguineer auf Exkursionen mitnehme, deren Ziel außerhalb ihrer gewohnten Umgebung liegt. Beim Marsch durch den Dschungel heben sie ständig Dinge auf, die ihnen fremd sind, hantieren damit herum und nehmen sie mit nach Hause, wenn sie einen interessanten Nutzen darin sehen. Ähnliches geschieht, wenn ich einen Lagerplatz verlasse und Bewohner der Umgebung herbeiströmen, um nach Dingen zu stöbern, die ich vielleicht liegengelassen habe. Sie spielen mit den fortgeworfenen Gegenständen und versuchen herauszufinden, ob sie für sie nützlich sein könnten. Fortgeworfene Blechdosen sind ein klarer Fall: Sie eignen sich gut als Behälter. Andere Gegenstände werden auf ihre Tauglichkeit für Zwecke getestet, für die sie nie bestimmt waren. Wie würde sich wohl dieser gelbe Bleistift als Schmuckstück machen, vielleicht durch ein Ohrläppchen oder die Nasenwand geschoben? Und ob diese Glasscherbe wohl scharf genug ist, um etwas damit zu schneiden? Heureka!
Das Rohmaterial, das vorgeschichtlichen Völkern zur Verfügung stand, waren natürliche Stoffe wie Steine, Holz, Knochen, Häute und Felle, Fasern, Ton, Sand, Kalkstein und Mineralien, die alle in großer Vielfalt vorhanden waren. Im Laufe der Zeit lernten die Menschen, aus einigen Arten von Gestein, Holz und Knochen Werkzeuge zu fertigen, bestimmte Tonarten zu Töpferwaren und Ziegelsteinen zu verarbeiten, Mischungen aus Sand, Kalkstein und anderen Stoffen des Erdreichs in Glas zu verwandeln und im Reinzustand vorkommende Weichmetalle wie Kupfer und Gold zu bearbeiten, später dann Metalle aus Erzen zu gewinnen und schließlich Hartmetalle wie Bronze und Eisen zu bearbeiten.
Ein gutes Beispiel für Erfolge mit der Probiermethode ist die Entwicklung von Schießpulver und Benzin aus natürlichen Materialien. Brennbare Stoffe, die in der Natur vorkommen, machen gelegentlich von selbst auf sich aufmerksam, etwa wenn ein harzhaltiges Holzscheit im Lagerfeuer explodiert. Um 2000 v. Chr. wurde in Mesopotamien tonnenweise Erdöl durch Erhitzung von Naturasphalt gewonnen. Die alten Griechen entdeckten die Verwendungsmöglichkeit verschiedener Mischungen von Erdöl, Pech, Harz, Schwefel und ungelöschtem Kalk als Brandbomben, die mit Schleudern, Pfeilgeschossen und Schiffen zum Ziel befördert wurden. Die Destillationskenntnisse, die sich moslemische Alchemisten im Mittelalter aneigneten, um Alkohol und Parfüms herzustellen, verschafften ihnen auch die Möglichkeit, Erdöl in seine Bestandteile zu zerlegen, von denen sich einige als noch wirkungsvollere Brandstoffe erwiesen. Abgefeuert mit Granaten, Raketen und Torpedos, hatten sie entscheidenden Anteil am Sieg der Mohammedaner über die Kreuzfahrer. Unterdessen hatte man in China zu jener Zeit bereits entdeckt, daß eine ganz bestimmte Mischung aus Schwefel, Holzkohle und Salpeter, die als »Schießpulver« bekannt werden sollte, besonders explosive Eigenschaften besaß. Eine chemische Abhandlung moslemischer Wissenschaftler von ca. 1100 n. Chr. beschrieb sieben verschiedene Arten von Schießpulver; ein Traktat aus dem Jahr 1280 n. Chr. enthielt bereits Rezepte für über 70 Pulvermischungen, die sich für diverse Zwecke eigneten (unter anderem für Raketen und Kanonen).
Bei der neuzeitlichen Destillation von Erdöl entdeckten Chemiker im 19. Jahrhundert die Fraktion der Mitteldestillate als nützlichen Brennstoff für Petroleumlampen. Die flüchtigste Fraktion (Rohbenzin) betrachteten sie als bedauerliches Abfallprodukt – bis man herausfand, daß sich dieser Stoff ideal für Verbrennungsmotoren eignete. Wer mag heute wohl glauben, daß Benzin, der Energielieferant Nummer 1 der modernen Zivilisation, ebenfalls zu den Entdeckungen zählte, für die erst ein Verwendungszweck gesucht werden mußte?
Hat ein Erfinder für eine neue Technik einen Verwendungszweck gefunden, besteht der nächste Schritt darin, die Gesellschaft davon zu überzeugen. Ein größeres, schnelleres, mächtigeres Etwas zur Verrichtung bestimmter Aufgaben vorweisen zu können bedeutet noch keine Garantie für durchschlagenden Erfolg.
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