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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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und Bogen übernahmen, deren Nutzen ihnen von den Bewohnern der Inseln in der Torresstraße, mit denen sie Handel trieben, vor Au­gen geführt wurde? Kann es sein, daß sämtliche Gesell­schaften eines ganzen Kontinents innovationsfeindlich sind und der langsamere technische Fortschritt darauf zurückgeht? In diesem Kapitel wollen wir endlich ver­suchen, eine Antwort auf eine der zentralen Fragen die­ses Buchs zu geben: Warum vollzog sich der technische Fortschritt auf den verschiedenen Kontinenten in so un­terschiedlichem Tempo?
    Ausgangspunkt unserer Diskussion ist die Volksweis­heit, die sich in dem Sprichwort »Not macht erfinde­risch« offenbart. Danach werden Erfindungen stets dann gemacht, wenn eine Gesellschaft ihre Bedürfnis­se durch bestimmte Techniken nicht oder nur unbefrie­digend erfüllt sieht. Angespornt von der Aussicht auf Ruhm und Reichtum, greifen Erfinder in spe ein Bedürfnis auf und versuchen, eine Antwort zu finden. Ir­gend jemand kommt schließlich auf eine Lösung, die der bisherigen, unbefriedigenden Technik überlegen ist. Sofern sie nicht kulturellen Werten widerspricht oder mit anderen Techniken inkompatibel ist, wird diese dann von der jeweiligen Gesellschaft übernommen.
    Mit diesem Standpunkt, der dem Alltagsverständnis entspricht und die Not als Mutter der Erfindung ansieht, deckt sich eine relativ große Zahl von Erfindungen. Im Jahr 1942 initiierte die US-Regierung auf dem Höhe­punkt des Zweiten Weltkriegs das sogenannte Manhat­tan-Projekt mit dem ausdrücklichen Ziel, die zum Bau der Atombombe benötigte Technik zu entwickeln, bevor Hitler den Alliierten zuvorkommen konnte. Das Projekt führte nach drei Jahren zum Erfolg, die Kosten beliefen sich auf zwei Milliarden Dollar (nach heutigem Geld­wert über 20 Milliarden Dollar). Weitere Beispiele sind Eli Whitneys Maschine zur Trennung von Lint und Sa­men aus dem Jahr 1794, die im Süden der USA das um­ständliche Verfahren der Reinigung von Baumwolle per Hand überflüssig machen sollte, sowie die Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt im Jahr 1769, die zur Lösung des Problems gedacht war, wie sich das Wasser aus britischen Kohlebergwerken abpumpen ließe.
    Diese bekannten Beispiele sind insofern trügerisch, als sie zu der Annahme verleiten, andere bedeutende Erfin­dungen seien ebenfalls Reaktionen auf vorhandene Be­dürfnisse gewesen. In Wirklichkeit gehen viele, ja viel­leicht sogar die meisten Erfindungen auf das Konto von Menschen, die von Neugier oder Bastelfreude getrieben waren, ohne daß zunächst ein bestimmtes Bedürfnis im Vordergrund stand, für das sie eine Lösung suchten. Erst nach der Erfindung stellte sich die Frage nach der pas­senden Verwendung. Und erst später, nachdem das ent­sprechende Produkt längere Zeit in Gebrauch war, stellte sich bei den Benutzern das Gefühl ein, es handele sich um etwas für sie »Notwendiges«. Bei anderen Erfindun­gen setzte sich am Ende ein ganz anderer Zweck durch als der, für den sie ursprünglich gedacht waren. Es mag überraschen, daß in die Kategorie der Erfindungen, de­ren Zweck am Anfang keineswegs feststand, die meisten großen technischen Errungenschaften fallen, vom Flug­zeug und Automobil über den Verbrennungsmotor und die elektrische Glühbirne bis hin zum Grammophon und Transistor. So gesehen war die Erfindung häufiger die Mutter der Not als umgekehrt.
    Ein gutes Beispiel ist die Geschichte von Thomas Edi­sons Phonograph, der wohl originellsten Erfindung jenes bedeutendsten Erfinders der Neuzeit. Als Edison im Jahr 1877 den ersten Phonographen baute, veröffentlichte er dazu einen Artikel, in dem er zehn Verwendungsmög­lichkeiten vorschlug. Unter anderem nannte er die Auf­zeichnung der letzten Worte Sterbender, die Aufnahme von Büchern für Blinde, die Ansage der Uhrzeit und Un­terricht in Rechtschreibung. Die Wiedergabe von Mu­sik stand auf seiner Prioritätenliste ganz unten. Weni­ge Jahre später ließ Edison seinen Assistenten wissen, er halte seine Erfindung für kommerziell nicht verwertbar. Nachdem einige weitere Jahre vergangen waren, hatte er es sich anders überlegt und mit dem Verkauf von Phono­graphen begonnen – jedoch als Diktiergeräte fürs Büro. Als andere erfinderische Geister die Jukebox ersannen, die aus einem Phonographen bestand, der Schallplatten mit Unterhaltungsmusik spielte, wenn man eine Münze einwarf, wandte sich Edison energisch gegen diese Art der Nutzung, die in seinen Augen eine

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