Arm und Reich
versorgt werden wollen.
Die nächsten vier Erklärungsfaktoren sind eher im Bereich der Werte und Einstellungen angesiedelt. (1) Risikobereitschaft, für Innovationen von entscheidender Bedeutung, ist in einigen Gesellschaften verbreiteter als in anderen. (2) Die wissenschaftlich orientierte Denkweise ist ein einzigartiges Merkmal der europäischen Kultur seit der Renaissance und hat wesentlichen Anteil an der Entstehung der technischen Vorreiterrolle der Gesellschaften des Westens. (3) Der tolerante Umgang mit abweichenden Meinungen und Ansichten schafft einen günstigen Nährboden für Innovationen, während eine traditionsverhaftete Denkweise (wie in China, wo die Werke der alten Klassiker stets als Maß aller Dinge galten) dazu tendiert, Innovationen im Keim zu ersticken. (4) Religionen unterscheiden sich erheblich in ihrer Einstellung zum technischen Wandel. Während einige Richtungen des Judaismus und des Christentums als besonders fortschrittsfreundlich gelten, wird über manche Richtungen des Islam, Hinduismus und Brahmanismus das Gegenteil behauptet.
Alle zehn bisher genannten Hypothesen sind auf ihre Weise plausibel. Bei keiner spielt jedoch die Geographie zwangsläufig eine Rolle. Wenn Patentrechte, Kapitalismus und manche Religionen der technischen Entwicklung förderlich sind, wie kam es dann, daß diese Faktoren in Europa nach dem Ausgang des Mittelalters zum Tragen kamen, nicht aber im heutigen China oder Indien?
Wenigstens erscheint klar, in welche Richtung die genannten zehn Faktoren die technische Entwicklung beeinflussen. Die verbleibenden vier Faktoren – Krieg, zentralistische Regierungsform, Klima und Rohstoffe – sind dem technischen Wandel dagegen in manchen Fällen förderlich, in anderen eher abträglich. (1) In der Geschichte der Menschheit war Krieg oft einer der großen Schrittmacher des technischen Fortschritts. So führten die gewaltigen Investitionen in Atomwaffen während des Zweiten Weltkriegs und in Flugzeuge und Lkw während des Ersten Weltkriegs zur Entstehung völlig neuer technischer Domänen. Allerdings können Kriege dem technischen Fortschritt auch verheerende Rückschläge versetzen. (2) Starke Zentralregierungen sorgten im späten 19. Jahrhundert in Deutschland und Japan für einen rasanten technischen Aufschwung, während das zentralistische Kaisertum in China in der Zeit nach 1500 n. Chr. dem technischen Fortschritt den Garaus machte. (3) Viele Nordeuropäer glauben, die Technik würde in rauhem Klima, in dem die Menschen zum Überleben auf Hilfsmittel angewiesen sind, besser gedeihen als in Regionen mit mildem Klima, wo Kleidung überflüssig ist und den Menschen die Früchte der Natur in den Mund wachsen. Aber auch die entgegengesetzte Ansicht wird vertreten, nämlich daß ein mildes Klima den Menschen den andauernden Existenzkampf erspart und ihnen die Muße gibt, um sich Innovationen zu widmen. (4) Diskutiert wurde auch, ob der technische Fortschritt eher durch Überfluß oder Mangel an natürlichen Rohstoffen begünstigt wird. Eine reiche Ressour cenausstattung könnte eine gute Voraussetzung für Erfindungen darstellen, die diese Gaben der Natur nutzen, wie etwa die Wassermühlentechnik im regnerischen, von vielen Flüssen durchzogenen Nordeuropa – aber warum, so wäre zu fragen, setzte sich diese Technik nicht noch schneller im viel niederschlagsreicheren Neuguinea durch? Die Zerstörung der englischen Wälder wurde als Grund für die frühe Entwicklung der Kohletechnik in Großbritannien genannt, aber warum hatte die Entwaldung in China nicht den gleichen Effekt?
Der Vorrat an Erklärungen für die unterschiedliche Innova tionsfreundlichkeit von Gesellschaften ist damit noch lange nicht erschöpft. Noch schlimmer ist aber, daß all diese Ansätze die Frage nach den eigentlichen Ursachen unbeantwortet lassen. Dies mag als entmutigender Rückschlag bei unserem Bemühen erscheinen, den Gang der Geschichte zu verstehen, denn zweifellos spielte die Technik eine sehr wichtige Rolle. Wie ich gleich zeigen werde, erleichtert die Vielfalt unabhängiger Faktoren, die dem technischen Wandel zugrunde liegen, das Verständnis des Geschichtsverlaufs jedoch eher, als daß sie ihm im Wege stünde.
Uns interessiert an den aufgezählten Faktoren vor allem, ob sie sich von Kontinent zu Kontinent systematisch unterschieden und so die Ursache einer unterschiedlichen technischen Entwicklung waren. Die
Weitere Kostenlose Bücher