Arm und Reich
Entwürdigung seiner Erfindung darstellte und den Blick auf ernsthaftere Verwendungszwecke verstellte. Rund 20 Jahre später mußte er widerstrebend zugeben, daß die Aufnahme und Wiedergabe von Musik zum Hauptverwendungszweck seines Phonographen geworden war.
Das Kraftfahrzeug ist eine weitere Errungenschaft, deren Nutzen heute kaum bestritten wird. Seine Erfindung war jedoch keineswegs die Reaktion auf einen vorhandenen Bedarf. Als Nikolaus Otto 1866 den ersten Benzinmotor baute, hatten Pferde seit fast 6000 Jahren das Bedürfnis des Menschen nach einem Transportmittel für den Verkehr zu Lande gedeckt; an ihre Seite hatten sich seit einigen Jahrzehnten zunehmend dampfgetriebene Eisenbahnen gesellt. Weder wurden die Pferde knapp, noch war man unzufrieden mit den Dampfrossen.
Da Ottos Maschine zunächst nicht viel leistete, über zwei Meter groß war und sehr viel wog, war ihre Überlegenheit gegenüber Pferden alles andere als klar. Erst 1885 war die Entwicklung des Motors so weit fortgeschritten, daß Gottfried Daimler erstmals ein Fahrrad damit ausstatten konnte und auf diese Weise das erste Motorrad schuf; mit dem ersten Lkw ließ er sich noch Zeit bis 1896.
Noch im Jahr 1905 waren Kraftfahrzeuge ein teures, unzuverlässiges Spielzeug für die Reichen. Die übrige Bevölkerung begnügte sich bis zum Ersten Weltkrieg ohne Murren mit Pferden und Eisenbahnen, doch dann verkündeten die Generäle, daß unbedingt Lkw her müßten. Nach dem Krieg ließ sich die Öffentlichkeit durch intensives Werben von Lkw-Herstellern und Militärs schließlich davon überzeugen, daß Lkw auch im zivilen Bereich ein Segen seien, woraufhin diese in den industrialisierten Ländern nach und nach an die Stelle von Pferdefuhrwerken traten. Selbst in den größten amerikanischen Städten gingen über diese Umstellung jedoch 50 Jahre ins Land.
Erfinder müssen oft lange ungewollt in der Phase des Bastelns und Herumprobierens verharren, wenn sich niemand für ihre Erfindung interessiert, da die ersten Modelle noch keine wirklich nützliche Leistung erbringen. Die ersten Kameras, Schreibmaschinen und Fernsehgeräte waren ebensowenig berauschend wie Ottos zwei Meter hoher Benzinmotor. Für den Erfinder ist es deshalb schwer vorhersehbar, ob sein plumper Prototyp irgendwann zu etwas nütze sein wird und ob sich insofern der Aufwand an Zeit und Kosten für die weitere Entwicklung lohnt. Jedes Jahr werden in den USA rund 70 000 Patente angemeldet, von denen nur wenige den Sprung in die kommerzielle Verwertung schaffen. Auf jede große Erfindung, die sich am Ende durchsetzt, kommen unzählige, denen der Erfolg versagt bleibt. Selbst Erfindungen, die für ihren vorgesehenen Zweck tauglich sind, erweisen sich später oft auf ganz anderem Gebiet als wertvoll. So lieferte die Dampfmaschine, die James Watt zum Abpumpen von Wasser aus Bergwerken erfand, bald Energie für Baumwollspinnereien und später (mit weit höherem Nutzen) für Lokomotiven und Schiffe.
So kehrt das Alltagsverständnis von Erfindungen, das wir an den Anfang unserer Betrachtung stellten, die übliche Reihenfolge von Erfindung und Bedürfnis um. Überdies rückt sie seltene Genies wie Watt und Edison viel zu sehr ins Rampenlicht. Diese Sichtweise wird allerdings vom Patentrecht gefördert, das von jedem Antragsteller den Nachweis verlangt, daß die von ihm eingereichte Erfindung etwas völlig Neues darstellt. Hierdurch erhalten Erfinder einen finanziellen Anreiz für die Abwertung oder Verheimlichung der Arbeit anderer. Aus der Sicht eines Patentanwalts ist die ideale Erfindung diejenige, die ohne jeden Vorläufer quasi aus dem Nichts auftaucht – etwa so wie Athene, die in voller Rüstung dem Haupt des Göttervaters Zeus entsprang.
In Wirklichkeit verbergen sich hinter jeder berühmten und angeblich bahnbrechenden Erfindung, die in der Neuzeit gemacht wurde, kaum beachtete Wegbereiter, die die kühne Behauptung »X erfand Y« relativieren. Zum Beispiel wird immer wieder verkündet, »James Watt erfand 1769 die Dampfmaschine«, wozu ihn angeblich der zischende Dampf eines Teekessels inspirierte. Wahrheitsgemäß müßte es eigentlich heißen, daß ihm die Idee zu seiner speziellen Dampfmaschine kam, als er gerade ein Modell von Thomas Newcomens Dampfmaschine reparierte. Newcomen hatte sie 57 Jahre zuvor erfunden, und als Watt an ihr zu werkeln begann, waren davon in England bereits über 100 Stück
Weitere Kostenlose Bücher