Arm und Reich
Da somit kein gemeinsamer Wortstamm mit der Bedeutung »Gewehr« vorhanden war, mußte jede indogermanische Sprache ihr eigenes Wort erfinden oder entlehnen, als das Gewehr schließlich da war.
In gleicher Weise können wir nun moderne taiwanesische, philippinische, indonesische und polynesische Sprachen miteinander vergleichen, um eine in grauer Vorzeit gesprochene uraustronesische Sprache zu rekonstruieren. Es wird niemanden überraschen, daß diese rekonstruierte Sprache Wörter mit Bedeutungen wie »zwei«, »Vogel«, »Ohr« und »Kopflaus« besaß: Natürlich konnten die Uraustronesier schon bis zwei zählen, kannten Vögel und hatten Ohren und Kopfläuse. Interessanter ist aber, daß in der rekonstruierten Sprache auch Wörter für »Schwein«, »Hund« und »Reis« vorkamen, was auf entsprechende Elemente der uraustronesischen Kultur schließen läßt. Das rekonstruierte Uraustronesisch ist voller Vokabeln, die auf die Bedeutung des Meeres als Nahrungsquelle hinweisen, wie etwa »Auslegerboot«, »Segel«, »Riesenvenusmuschel«, »Octopus«, »Fischfalle« und »Meeresschildkröte«. Diese sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse über die Kultur der Uraustronesier, wo und wann sie auch gelebt haben mögen, weisen eine gute Übereinstimmung mit archäologischen Erkenntnissen über jene Bewohner Taiwans vor 6000 Jahren auf, die töpferten, Landwirtschaft betrieben und mit Booten aufs Meer fuhren.
Nach der gleichen Methode kann auch Urmalaiopolynesisch rekonstruiert werden, jene Sprache, die von Austronesiern gesprochen wurde, nachdem sie Taiwan verlassen hatten. In ihr sind Wörter für zahlreiche tropische Früchte enthalten, wie Taro, Brotfrucht, Banane, Jamswurzel und Kokosnuß, für die in der rekonstruierten uraustronesischen Sprache kein Wort gefunden wurde. Das bedeutet, daß viele tropische Früchte erst nach der Emigration von Taiwan zum austronesischen Repertoire hinzukamen. Dieser Schluß steht im Einklang mit archäologischen Erkenntnissen: Während die von Taiwan (etwa 23 Grad nördlicher Breite) aufgebrochenen Bauern nach Süden vordrangen und sich dem Äquator näherten, stellten sie ihre Ernährung zunehmend auf tropische Wurzel- und Baumfrüchte um, die sie später mit auf die Reise in den tropischen Pazifik nahmen.
Was versetzte diese Austronesisch sprechenden Bauern aus Südchina nun aber in die Lage, die ursprüngliche Jäger- und Sammlerbevölkerung der Philippinen und des westlichen Indonesien so vollständig zu überrennen, daß von ihr wenig genetische und überhaupt keine sprachlichen Spuren übrigblieben? Die Gründe lagen, wie bei der Verdrängung beziehungsweise Vernichtung der australischen Aborigines durch Europäer innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte und der Verdrängung der ursprünglichen Südostasiaten durch Südchinesen zu einem früheren Zeitpunkt, in der viel größeren Bevölkerungsdichte der bäuerlichen Eindringlinge, ihren überlegenen Werkzeugen und Waffen, ihren besseren nautischen Fähigkeiten und den Infektionskrankheiten, gegen die sie im Gegensatz zu den Jägern und Sammlern, in deren Territorien sie einrückten, Abwehrkräfte entwickelt hatten. Genauso konnten Austronesisch sprechende Bauern auf dem asiatischen Festland einen Teil der dortigen Jäger- und Sammlerbevölkerung der Malaiischen Halbinsel verdrängen. Austronesier besiedelten die Halbinsel von Süden und Osten her (von den indonesischen Inseln Sumatra und Borneo kommend), während ungefähr zur gleichen Zeit bäuerliche Sprecher austroasiatischer Sprachen von Norden her (Thailand) auf die Halbinsel vorrückten. Anderen Austronesiern gelang es, sich in einigen Teilen Südvietnams und Kambodschas zu etablieren, wo noch heute ihre Nachfahren, die Cham, als Minderheit leben.
Weiter konnten die austronesischen Bauern jedoch nicht auf das südostasiatische Festland vordringen, da austroasiatische und Tai-Kadai-Bauern dort bereits seßhaft geworden waren und die ältere Jäger- und Sammlerbevölkerung verdrängt hatten und weil austronesische Bauern keinen Vorteil gegenüber den austroasiatischen und Tai-Kadai-Bauern besaßen. Austronesischsprecher waren zwar nach unseren Erkenntnissen ursprünglich an der Küste Südchinas beheimatet, doch werden austronesische Sprachen auf dem chinesischen Festland heute nirgendwo mehr gesprochen. Möglicherweise gehörten sie zu den Hunderten ehemaliger chinesischer Sprachen, die im Zuge der
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