Arm und Reich
Übersee aufbrachen, war die austronesische Sprachfamilie weltweit am stärksten verbreitet. Das läßt den Schluß zu, daß die malaiopolynesische Untergruppe sich erst vor relativ kurzer Zeit aus der austronesischen Sprachfamilie herausbildete und sich weit entfernt von der austronesischen Urheimat ausbreitete, wobei zahlreiche lokale Sprachen entstanden, die alle eng miteinander verwandt sind, weil zuwenig Zeit verging, um große Unterschiede entstehen zu lassen. Die geographische Heimat der austronesischen Sprachfamilie sollte deshalb nicht im Verbreitungsgebiet der malaiopolynesischen, sondern der drei anderen austronesischen Untergruppen gesucht werden, die sich weit stärker voneinander und vom Malaiopolynesischen unterscheiden, als dies bei den Unter-Untergruppen des Malaiopolynesischen untereinander der Fall ist.
Bemerkenswerterweise haben die drei anderen Untergruppen fast genau das gleiche Verbreitungsgebiet, das noch dazu verglichen mit dem der malaiopolynesischen Untergruppe winzig klein ist. Alle drei werden ausschließlich von Ureinwohnern Taiwans gesprochen, einer nur etwa 150 Kilometer vor der Küste Südchinas gelegenen Insel. Die Ur-Taiwanesen hatten ihre Insel weitgehend für sich, bis Chinesen vom Festland innerhalb der letzten tausend Jahre in großer Zahl überzusiedeln begannen. Nach 1945 und besonders nach dem Sieg der Kommunisten über Chiang Kaisheks Nationalisten schwoll der Strom weiter an, was inzwischen dazu geführt hat, daß die Ureinwohner nur noch eine Minderheit von zwei Prozent der Bevölkerung bilden. Das gehäufte Vorkommen von drei der vier Untergruppen der austronesischen Sprachfamilie in Taiwan läßt vermuten, daß die Insel die gesuchte Urheimat ist, in der austronesische Sprachen am längsten gesprochen wurden und folglich am meisten Zeit zur Differenzierung hatten. Alle anderen austronesischen Sprachen, von denen Madagaskars bis hin zu den Sprachen der Osterinsulaner, wären demnach auf eine Bevölkerungsexpansion zurückzuführen, deren Ursprungsort auf Taiwan lag.
Schauen wir nun, welche Erkenntnisse die Archäologie für uns bereithält. In den Überresten vorgeschichtlicher Dörfer findet man zwar neben Knochen und Töpferwaren keine versteinerten Wörter, sie geben aber dennoch Auskunft über Bewegungen von Völkern und kulturellen Artefakten, die mit Sprachen im Zusammenhang stehen könnten. Wie die übrige Welt war auch der größte Teil des heutigen austronesischen Sprachraums – Taiwan, Philippinen, Indonesien und zahlreiche Pazifikinseln – ursprünglich von Jägern und Sammlern bevölkert, die weder Töpferwaren noch geschliffene Steinwerkzeuge, Haustiere oder Anbaupflanzen kannten. (Ausnahmen bildeten lediglich Madagaskar, der östliche Teil Melanesiens, Polynesien und Mikronesien, wohin Jäger und Sammler niemals vordrangen und die erst nach Beginn der austronesischen Expansion von Menschen in Besitz genommen wurden.) Die ersten archäologischen Hinweise auf Veränderungen innerhalb »Austronesiens« kommen aus – Taiwan. Etwa ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. tauchte ein unverwechselbarer Keramikstil, der als Tap’enk’eng bezeichnet wird und auf einen älteren Stil des südchinesischen Festlands zurückgeht, auf Taiwan und an der gegenüberliegenden Küste Südchinas auf. Überreste von Reis und Hirse, die an etwas jüngeren Fundstätten auf Taiwan zum Vorschein kamen, deuten darauf hin, daß Landwirtschaft betrieben wurde.
Die Tap’enk’eng-Fundstätten auf Taiwan und an der südchinesischen Küste sind übersät mit Fischgräten und Schalen von Weichtieren sowie steinernen Netzgewichten und Dechseln zum Aushöhlen von Kanus. Offenbar besaßen jene ersten neolithischen Bewohner Taiwans Boote, die zum Fischfang auf hoher See und zur regelmäßigen Überquerung der Formosastraße zwischen Taiwan und dem Festland taugten. Vielleicht war die Formosastraße das Übungsrevier, in dem Festlandchinesen die nautischen Fähigkeiten erwarben, die ihnen später die Eroberung des Pazifiks ermöglichen sollten.
Eine spezielle Sorte von Artefakten, die ein Bindeglied zwischen Taiwans Tap’enk’eng-Kultur und späteren Kulturen der pazifischen Inselwelt darstellt, ist der Rindenklopfer, ein Gerät aus Stein zum Zerdrücken der faserigen Rinde bestimmter Baumarten, um daraus Taue, Netze und Kleidung herzustellen. Nachdem die Pazifickolonisten das Verbreitungsgebiet von Faserpflanzen und
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