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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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das Boot in der Waagerechten blieb, so daß es praktisch nicht kentern konnte. Möglicherweise war die Erfindung des Doppelausleger-Segelkanus der tech­nologische Durchbruch, der die austronesische Expan­sion vom chinesischen Festland auslöste.
    Das verblüffende Zusammentreffen archäologischer und sprachlicher Indizien in zwei Fällen untermau­ert den Schluß, daß es sich bei jenen Menschen, die vor Jahrtausenden eine neolithische Kultur nach Tai­wan, auf die Philippinen und nach Indonesien brach­ten, um Sprecher austronesischer Sprachen handelte, die zugleich die Vorfahren der heutigen Bewohner die­ser Inseln waren. Erstens weisen beide Arten von In­dizien eindeutig auf die Besiedlung Taiwans als erste Stufe der Expansion, die von der südchinesischen Kü­ste ausging, und die Besiedlung der Philippinen und In­donesiens von Taiwan aus als nächste Stufe hin. Wäre die Malaiische Halbinsel der Ursprungsort der Ausbrei­tungsbewegung gewesen, und hätte sie sich von dort zur nächstgelegenen indonesischen Insel, Sumatra, fortge­pflanzt, um danach weitere indonesische Inseln zu er­fassen und schließlich auf die Philippinen und Taiwan überzugreifen, müßten die tiefsten Gräben (als Aus­druck der längsten verstrichenen Zeiträume) innerhalb der austronesischen Sprachfamilie zwischen den mo­dernen Sprachen der Malaiischen Halbinsel und Suma­tras zu finden sein, während die Sprachen Taiwans und der Philippinen erst in jüngerer Vergangenheit inner­halb der gleichen Untergruppe angefangen hätten, sich zu differenzieren. In Wirklichkeit sind die Unterschie­de auf Taiwan am größten, während die Sprachen der Malaiischen Halbinsel und Sumatras zur gleichen Un­ter-Unter-Untergruppe gehören: einem jüngeren Zweig der westlichen malaiopolynesischen Unter-Untergrup­pe, die wiederum einen relativ jungen Zweig der ma­laiopolynesischen Untergruppe darstellt. Diese Details der sprachlichen Verwandtschaft stimmen vollkom­men mit den archäologischen Indizien überein, die für eine Kolonisierung der Malaiischen Halbinsel in jün­gerer Vergangenheit und erst nach der Besiedlung Tai­wans, der Philippinen und Indonesiens sprechen.
    Das zweite Zusammentreffen archäologischer und sprachlicher Indizien betrifft das kulturelle Rüstzeug der frühen Austronesier. Die Archäologie liefert uns hierzu direkte Hinweise in Form von Töpferwaren, Schweinen, Fischgräten usw. Man könnte sich natürlich fragen, wie ein Linguist, der sich mit dem Studium moderner Spra­chen beschäftigt und unwissend bleiben muß, was de­ren schriftlose Vorgänger betrifft, jemals herausfinden soll, ob die Austronesier, die vor 6000 Jahren auf Taiwan lebten, Schweine hielten oder nicht. Der Schlüssel liegt in der Rekonstruktion des Wortschatzes verschwundener Ursprachen durch vergleichende Analysen der Wortschätze moderner Sprachen, die aus ihnen hervorgingen.
    So sind die Bezeichnungen für »Schaf« in vielen Spra­chen der indogermanischen Sprachfamilie, deren Ver­breitungsgebiet von Indien bis nach Irland reicht, recht ähnlich: »avis«, »avis«, »ovis«, »oveja«, »ovtsa«, »owis« und »oi« auf litauisch, sanskrit, lateinisch, spanisch, rus­sisch, griechisch beziehungsweise irisch. (Das moderne englische Wort »sheep« hat offenbar eine andere Wurzel, doch der ursprüngliche Stamm ist in dem Wort »ewe« = Mutterschaf erhalten geblieben. [4] )Ein Vergleich mit den Lautverschiebungen, die im Laufe der Geschich­te der verschiedenen heutigen indogermanischen Spra­chen stattgefunden haben, legt den Schluß nahe, daß die ursprüngliche Form in der vor etwa 6000 Jahren gesprochenen indogermanischen Ursprache »owis« ge­lautet hat. Jene schriftlose Vorgängersprache bezeichnen wir als Urindogermanisch.
    Offensichtlich besaßen die Urindogermanen vor 6000 Jahren Schafe, was auch archäologische Funde bestä­tigen. Nahezu 2000 Wörter ihrer Sprache lassen sich auf ähnliche Weise rekonstruieren, darunter solche wie »Ziege«, »Pferd«, »Rad«, »Bruder« und »Auge«. Dagegen kann kein urindogermanisches Wort für »Gewehr« re­konstruiert werden – hierfür greifen die verschiedenen indogermanischen Sprachen auf unterschiedliche Wur­zeln zurück: Englisch auf »gun«, Französisch auf »fu­sil«, Russisch auf »ruzjo« usw. Das sollte uns auch nicht überraschen: Wie hätte man vor 6000 Jahren schon ein Wort für Gewehr haben können, wo doch Schießeisen erst innerhalb der letzten 1000 Jahre erfunden wurden?

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