Arm und Reich
Landungsstellen die Rede, die offenbar weiter südlich an den Küsten Labradors und der Baffininsel lagen.
Abbildung 17.1 Expansion der Wikinger von Norwegen über den Nordatlantik, mit den ungefähren Zeitpunkten ihrer Ankunft an den verschiedenen Stationen
Das isländische Klima ermöglichte Viehhaltung und in sehr bescheidenem Umfang auch Ackerbau. Die Insel ist groß genug, um den Nachfahren der Wikinger bis heute als Lebensgrundlage zu dienen. Dagegen ist Grönland zum größten Teil von Eismassen bedeckt, und selbst die beiden Fjorde, an denen die Bedingungen für die Landwirtschaft noch am günstigsten sind, konnten nicht nennenswert zur Nahrungsversorgung der Wikinger beitragen. Die grönländische Wikinger-Population umfaßte nie mehr als einige tausend Menschen, die immer auf Lebensmittel- und Eisenlieferungen aus Norwegen und Holz aus Labrador angewiesen waren. Anders als die Osterinsel und andere entlegene polynesische Inseln vermochte Grönland keine autarke bäuerliche Gesellschaft zu ernähren, wenngleich vor, während und nach der Wikinger-Zeit Eskimos auf der Insel lebten und den Daseinskampf als Jäger und Sammler erfolgreich meisterten. Die Bevölkerungen Islands und Norwegens waren selbst zu klein und zu arm, um die grönländischen Wikinger auf die Dauer zu unterstützen.
Während der »Kleinen Eiszeit«, die im 13. Jahrhundert einsetzte, führte die Abkühlung des Nordatlantiks zu einer weiteren Verschlechterung der Bedingungen für die Landwirtschaft auf Grönland, aber auch für Grönlandfahrten von Norwegen und Island aus. Zum letzten überlieferten Kontakt zwischen Grönländern und Europäern kam es im Jahr 1410, als ein isländisches Schiff im Sturm vom Kurs abkam. Als Europäer im Jahr 1577 endlich wieder begannen, Grönland zu besuchen, existierte die Wikinger-Kolonie nicht mehr – sie war offenbar irgendwann im 15. Jahrhundert sang- und klanglos verschwunden.
Indessen lag die Küste Nordamerikas, bedingt durch den Stand des Schiffbaus in der Heimat der Wikinger im Zeitraum 986–1410 n. Chr., außerhalb der Reichweite von Schiffen, die direkt von Norwegen in See stachen. Statt dessen unternahmen die Wikinger ihre Amerikafahrten von Grönland aus, das von Nordamerika nur durch die 300 Kilometer breite Davisstraße getrennt ist. Die Chancen, daß jene winzige Kolonie zum Ausgangspunkt für die Erkundung, Eroberung und schließlich Besiedlung Amerikas werden konnte, waren indes gleich Null. Selbst bei der einzigen auf der Insel Neufundland entdeckten Wikinger-Siedlung handelte es sich offenbar lediglich um ein Winterlager, das ein paar Dutzend Menschen wenige Jahre lang bewohnt hatten. In den Wikinger-Sagen wird an mehreren Stellen geschildert, wie das Lager in Vinland von »Skraelings« angegriffen wird; gemeint waren offenbar neufundländische Indianer oder Dorset-Eskimos.
Das Schicksal der grönländischen Kolonie, des entlegensten Außenpostens Europas im Mittelalter, ist eines der großen Rätsel der Archäologie. Verhungerten die letzten grönländischen Wikinger etwa? Versuchten sie, der Insel mit Schiffen zu entfliehen? Schlossen sie Mischehen und gingen in der Eskimo-Bevölkerung auf? Erlagen sie Krankheiten oder wurden gar von Eskimo-Pfeilen getötet? Während diese Fragen nach den unmittelbaren Gründen weiter der Beantwortung harren, liegen die tieferen Ursachen für das damalige Scheitern der Kolonisierung Grönlands und Amerikas klar auf der Hand. Sowohl der Ausgangspunkt (Norwegen) als auch die Zielgebiete (Grönland und Neufundland) sowie der Zeitraum (984–1410 n. Chr.) sorgten von vornherein dafür, daß Europas potentielle Vorteile in den Bereichen Landwirtschaft, Technik und politische Organisation nicht wirksam zur Geltung kommen konnten. In Regionen, die für eine auch nur halbwegs intensive landwirtschaftliche Nutzung zu weit im Norden lagen, konnten es die Eisenwerkzeuge einer kleinen Schar von Wikingern, die von einem der ärmeren Staaten Europas nur schwach unterstützt wurden, mit den Stein-, Knochen- und Holzwerkzeugen von eskimoischen und indianischen Jägern und Sammlern, den Weltmeistern im Überleben in der Arktis, nicht aufnehmen.
Dem zweiten eurasischen Versuch einer Kolonisierung Amerikas war Erfolg beschert, weil Ausgangspunkt, Zielgebiet und Zeitraum eine wirksame Entfaltung der europäischen Überlegenheit ermöglichten. Im Gegensatz zu Norwegen verfügte Spanien über
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