Arm und Reich
Sprachfamilie, Amerind genannt, mit rund einem Dutzend Zweigen zuordnet.
Tabelle 17.2 Sprachenausbreitung in der Alten Welt
Einige von Greenbergs Unterfamilien sowie einige der Gruppierungen, die von anderen Linguisten beschrieben wurden, könnten zum Teil auf Bevölkerungsexpansionen in der Neuen Welt zurückgehen, hinter denen als Triebkraft die Landwirtschaft stand. Ich denke dabei an die utoaztekischen Sprachen Mesoamerikas und der westlichen USA, die Otomangue-Sprachen Mesoamerikas, die Natchez-Muskogee-Sprachen im Südosten der USA und die arawakischen Sprachen der Karibik. Daß sich Linguisten so schwer auf eine einheitliche Klassifizierung der Indianersprachen verständigen können, spiegelt indes die Schwierigkeiten wider, denen sich komplexe indianische Gesellschaften bei dem Versuch, innerhalb der Neuen Welt zu expandieren, ausgesetzt sahen. Wäre es Landwirtschaft treibenden Stämmen gelungen, mit ihren Anbaupflanzen und Haustieren große Gebiete in Besitz zu nehmen und innerhalb kurzer Zeit die dort lebenden Jäger und Sammler zu verdrängen, hätten sie gewiß, ähnlich wie eurasische Völker, Spuren in Form leicht erkennbarer Sprachfamilien hinterlassen, und die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den verschiedenen Indianersprachen wären nicht so umstritten.
Wir haben bisher drei Gruppen tieferer Ursachen identifiziert, die entscheidend dafür waren, daß die europäischen Eindringlinge in Amerika die Oberhand gewannen: Eurasiens großer zeitlicher Vorsprung bei der menschlichen Besiedlung, die Überlegenheit seiner Landwirtschaft infolge der besseren Ausstattung mit domestizierbaren Pflanzen und besonders Tieren sowie die geringen geographischen und ökologischen Barrieren, die der Ausbreitung von Tieren, Pflanzen, Ideen, Techniken und Menschen im Wege standen. Eine vierte Ursache, allerdings spekulativerer Art, könnte man aus dem rätselhaften Ausbleiben bestimmter Erfindungen in Nord- und Südamerika ableiten, genauer gesagt der Nichterfindung von Schrift und Rad in komplexen Andengesellschaften, obwohl diese ungefähr gleich alt waren wie jene mesoamerikanischen Gesellschaften, in denen Schrift und Rad erfunden wurden; rätselhaft ist auch, daß Räder in Mesoamerika nur in Form von Spielzeug Verwendung fanden und später sogar wieder in Vergessenheit gerieten, obwohl sie dort sicher von großem Nutzen hätten sein können (wie die Schubkarre in China). All das erinnert an ebenso verblüffende Nichterfindungen beziehungsweise das Abhandenkommen von Erfindungen in kleinen isolierten Gesellschaften, beispielsweise in Tasmanien, Australien, Japan, auf polynesischen Inseln und in der amerikanischen Arktis. Gewiß, Nordund Südamerika sind zusammen alles andere als klein: Die Fläche des Doppelkontinents entspricht immerhin 76 Prozent der Fläche Eurasiens, und auch die Zahl seiner Bewohner konnte sich im Jahr 1492 im Vergleich zur eurasischen vermutlich sehen lassen. Wie wir erfahren haben, sind Nord- und Südamerika jedoch in »Inseln« zersplittert, zwischen deren Kulturen kaum Kontakte bestanden. Vielleicht ist die Geschichte des Rads und der Schrift in Amerika ein Beispiel für das gleiche Phänomen, das wir in extremer Form bei echten Inselkulturen beobachten konnten. – Nach mindestens 13 000jähriger getrennter Entwicklung kam es innerhalb der letzten tausend Jahre schließlich zur Kollision zwischen amerikanischen und eurasischen Kulturen. Zuvor hatten sich die Kontakte zwischen Alter und Neuer Welt auf Jäger und Sammler an beiden Ufern der Beringstraße beschränkt.
Von indianischer Seite wurde nie der Versuch unternommen, Eurasien zu kolonisieren, sieht man davon ab, daß sich eine kleine Population von Inuit (Eskimos) aus Alaska auf der anderen Seite der Beringstraße an der sibirischen Küste niederließ. Die ersten Versuche einer Kolonisierung Amerikas, die historisch belegt sind, unternahmen Wikinger in arktischen und subarktischen Breiten (Abbildung 17.1). Von Norwegen aus besiedelten sie im Jahr 874 n. Chr. Island und von dort im Jahr 986 n. Chr. Grönland, um dann zwischen etwa 1000 und 1350 n. Chr. mehrfach Fahrten zur Nordostküste Nordamerikas zu unternehmen. Die einzigen bisher entdeckten Überreste einer Wikinger-Siedlung in Amerika liegen in Neufundland – vermutlich jener Region, die in alten Wikinger-Sagen als Vinland (Weinland) bezeichnet wurde. In den Sagen ist allerdings auch von anderen
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