Arm und Reich
stehen, sagte ich mir, daß es eine Straße nach dem berüchtigten »Reichsmarschall« und zweiten Mann im Dritten Reich, Hermann Göring, benennen würde! So war es denn auch nicht, wie sich herausstellte. Die Straße trug ihren Namen vielmehr zum Gedenken an Görings Vater Heinrich, der an der Gründung der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika als »Reichskommissar« entscheidend mitgewirkt hatte. Aber auch Heinrich Göring hatte wahrlich keine weiße Weste: Unter anderem war er verantwortlich für einen der brutalsten Angriffe, die je von europäischen Kolonialmächten gegen Afrikaner geführt wurden: den deutschen Vernichtungsfeldzug von 1904 gegen die aufständischen Hereros. Auch wenn heute das Geschehen im benachbarten Südafrika das Interesse der Weltöffentlichkeit stärker erregt, so lastet doch auf Namibia ebenfalls ein schweres Erbe der kolonialen Vergangenheit, das dem Land beim Aufbau einer multikulturellen Gesellschaft große Probleme bereitet. Für mich war Namibia ein Lehrstück dafür, wie untrennbar Gegenwart und Vergangenheit in Afrika miteinander verknüpft sind.
Für die meisten Amerikaner und viele Europäer ist ein »echter« Afrikaner schwarz. Afrikaner mit weißer Hautfarbe gelten als fremde Eindringlinge der jüngeren Vergangenheit, und die Rassengeschichte Afrikas wird mit der Geschichte des europäischen Kolonialismus und Sklavenhandels gleichgesetzt. Für diese Sichtweise gibt es verständliche Gründe: Schwarze sind die einzigen Afrikaner, die den meisten Amerikanern aus eigener Anschauung bekannt sind, wurden sie doch als Sklaven in großer Zahl in die USA verschleppt. Es könnte jedoch sein, daß große Teile Afrikas bis vor wenigen Jahrtausenden von ganz verschiedenen Völkern bewohnt wurden, und auch unter den sogenannten Schwarzafrikanern sind die Unterschiede groß. Schon vor der Ankunft weißer Kolonialisten lebten in Afrika nicht nur Schwarze, sondern es waren dort (wie wir sehen werden) fünf der sechs wichtigsten Formengruppen der menschlichen Spezies vertreten, von denen drei ausschließlich in Afrika ansässig waren. Ein Viertel aller Sprachen der Welt wird nur in Afrika gesprochen. Kein anderer Kontinent kommt Afrika auch nur nahe, was die Vielfalt der menschlichen Spezies betrifft.
Die Vielfalt der afrikanischen Völker war das Ergebnis von Afrikas vielfältiger Geographie und langer Vorgeschichte. Als einziger Kontinent erstreckt sich Afrika von der nördlichen bis zur südlichen gemäßigten Zone. Es umfaßt einige der trockensten Wüsten, der größten Regenwälder und der höchsten äquatorialen Berge unseres Planeten. Die Anwesenheit des Menschen reicht in Afrika länger zurück als irgendwo sonst auf der Welt. Vor rund sieben Millionen Jahren stand hier die Wiege der Menschheit, und wahrscheinlich ist auch der anatomisch moderne Homo sapiens ein Geschöpf Afrikas. Die wechselseitigen Einflüsse, die die zahlreichen afrikanischen Völker über lange Zeiträume aufeinander ausübten, waren die Zutaten einer faszinierenden Vorgeschichte, in deren Verlauf sich unter anderem zwei der dramatischsten Bevölkerungsverschiebungen der letzten 5000 Jahre abspielten: die Bantu-Expansion und die Besiedlung Madagaskars von Indonesien aus. Wer wo vor wem ankam, hat in Afrika noch heute weitreichende Konsequenzen.
Wie gelangten nun aber jene fünf Hauptgruppen der Menschheit dorthin, wo sie heute auf der afrikanischen Landkarte angesiedelt sind? Warum sind die Schwarzen heute am weitesten verbreitet, warum nicht die vier anderen Gruppen, die im Afrikabild der meisten Amerikaner und Europäer gar nicht vorkommen? Wie können wir je hoffen, Antworten auf diese Fragen zu finden, wo doch – anders als etwa beim Aufstieg Roms – keine schriftlichen Aufzeichnungen Licht auf die frühe afrikanische Vergangenheit werfen? Die Vorgeschichte Afrikas gibt unendlich viele Rätsel auf, von denen erst ein Teil gelöst ist. Bei näherer Betrachtung stößt man allerdings auf einige ebenso verblüffende wie unbeachtete Parallelen zur amerikanischen Vorgeschichte, die Gegenstand des vorangegangenen Kapitels war.
Die fünf Hauptgruppen unserer Spezies, die schon vor dem Jahr 1000 n. Chr. in Afrika beheimatet waren, werden von Nichtwissenschaftlern gemeinhin als Schwarze, Weiße, afrikanische Pygmäen, Khoisan und Asiaten bezeichnet. Die jeweiligen Verbreitungsgebiete sind in Abbildung 18.1 dargestellt, die Unterschiede in
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