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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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sich Anbaupflanzen aus Vorderasien schnell genug nach Westen und Osten ausbreiteten, um an anderen Orten der eigenständigen Domestikation der gleichen oder eng verwandter Arten zuvorzukommen, führten die geographischen und öko­logischen Barrieren in Nord- und Südamerika dazu, daß etliche Kulturpflanzen an verschiedenen Orten parallel domestiziert wurden.
    Ebenso bemerkenswert wie die Auswirkungen der Barrieren auf die Ausbreitung von Anbaupflanzen und Haustieren waren ihre Folgen in anderen Bereichen menschlicher Zivilisation. Alphabete, deren Ursprung letztendlich im östlichen Mittelmeerraum lag, wurden von allen komplexen Gesellschaften Eurasiens – außer in einigen Regionen Ostasiens, in denen sich Ableger des chinesischen Schriftsystems etablierten – übernommen, von England bis nach Indonesien. Demgegenüber fanden die Schriftsysteme Mesoamerikas, die einzigen der Neuen Welt, nie den Weg zu den Zivilisationen im Anden­hochland und im Osten der USA, wo sie womöglich auf fruchtbaren Boden gefallen wären. Das in Mesoamerika erfundene Rad, das dort nur als Spielzeug Verwendung fand, erhielt nie Gelegenheit, sich mit dem in den Anden domestizierten Lama zusammenzutun, um der Neuen Welt zu Fortbewegung auf Rädern zu verhelfen. In Eura­sien maß die Ausdehnung Makedoniens und des Römi­schen Reiches von West nach Ost an die 5000 Kilometer, das Mongolenreich brachte es sogar auf fast 10 000 Kilometer. Die Staaten und Reiche Mesoamerikas unterhiel­ten dagegen weder mit den Häuptlingsreichen im Osten der USA (ca. 1100 Kilometer weiter nördlich) noch mit den Reichen und Staaten der Anden (ca. 2000 Kilometer weiter südlich) politische Beziehungen – wahrscheinlich wußten sie nicht einmal von deren Existenz.
    Die stärkere geographische Zersplitterung Nord- und Südamerikas im Vergleich zu Eurasien spiegelte sich auch im Bereich der Sprachen und ihrer Verbreitungs­gebiete wider. In Eurasien werden alle Sprachen bis auf wenige Ausnahmen von Linguisten übereinstimmend in etwa ein Dutzend Sprachfamilien eingeordnet, von denen jede bis zu einigen hundert verwandte Sprachen umfaßt. So setzt sich beispielsweise die indogermanische Sprachfamilie, zu der Englisch ebenso wie Französisch, Russisch, Griechisch und Hindu gehören, aus etwa 144 Sprachen zusammen. Nicht wenige Sprachfamilien be­sitzen ein großes, geschlossenes Verbreitungsgebiet – das der indogermanischen Sprachfamilie umfaßt den größ­ten Teil Europas sowie weite Teile Westasiens einschließ­lich Indiens. Die Erkenntnisse von Linguisten, Histori­kern und Archäologen lassen zusammen nur den Schluß zu, daß jeder dieser Sprachgroßräume das Ergebnis der historischen Expansion einer Vorgängersprache ist, auf die eine örtliche sprachliche Differenzierung folgte, die zur Entstehung einer Familie verwandter Sprachen führ­te (siehe Tabelle 17.2). Die meisten derartigen Expansio­nen sind anscheinend auf die Überlegenheit der bäu­erlichen Sprecher der jeweiligen Vorgängersprache ge­genüber Jäger- und Sammlervölkern zurückzuführen. Wir haben uns mit diesem Thema bereits in Kapitel 15 und 16 am Beispiel der sinotibetischen, austronesischen und anderer ostasiatischer Sprachfamilien auseinander­gesetzt. Zu den wichtigsten sprachlichen Ausbreitungs­bewegungen des letzten Jahrtausends zählen jene, in de­ren Verlauf indogermanische Sprachen von Europa nach Amerika und Australien, die russische Sprache von Ost­europa nach Sibirien und Türkisch (eine Sprache der al­taischen Sprachfamilie) von Zentralasien nach Westen in die Türkei gelangten.
    Mit Ausnahme der eskimo­aleutischen Sprachfamilie der amerikanischen Arktis und der Na-Dené-Sprachfa­milie in Alaska, Nordwestkanada und im Südwesten der USA gibt es in ganz Nord- und Südamerika keine Bei­spiele einer größeren sprachlichen Expansion, über die sich Sprachwissenschaftler auch nur halbwegs einig wä­ren. Die meisten Experten für Indianersprachen konnten neben dem Eskimo-Aleutischen und dem Na-Dené keine weiteren großen, klar abgrenzbaren sprachlichen Grup­pierungen feststellen. Bestenfalls unterteilen sie die übrigen Indianersprachen (deren Zahl nach verschiedenen Schätzungen zwischen 600 und 2000 liegt) in hundert oder mehr Sprachgruppen oder Einzelsprachen. Eine ab­weichende Meinung vertritt der amerikanische Linguist Joseph Greenberg, der alle Indianersprachen mit Aus­nahme der Eskimo­aleutischen und Na-Dené-Sprachen einer einzigen großen

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