Arm und Reich
Kontinente übrig, Nord- und Südamerika. Daß ihre Besiedlung zuletzt stattfand, ist nicht verwunderlich, mußte man doch entweder Boote besitzen (deren Existenz selbst für Indonesien bis vor 40 000 Jahren nicht belegt ist und die in Europa erst viel später in Erscheinung traten), um von der Alten Welt auf dem Seeweg dorthin zu gelangen, oder zuvor Sibirien besiedeln (was erst vor rund 20 000 Jahren geschah), um von dort aus die Bering-Landbrücke zu überqueren.
Wann genau im Zeitraum vor 14 000 bis 35 000 Jahren Nord- und Südamerika erstmals von Menschen besiedelt wurden, ist ungewiß. Die ältesten unumstrittenen Funde stammen aus Alaska und werden auf etwa 12 000 v. Chr. datiert. Für den Zeitraum danach gibt es eine Fülle von Fundstätten in den USA südlich der kanadischen Grenze und in Mexiko aus den Jahrhunderten unmittelbar vor 11 000 v. Chr. Die letzteren Fundstellen werden nach der Stadt Clovis in New Mexico, in deren Nähe die charakteristischen großen Speerspitzen aus Stein zum erstenmal identifiziert wurden, als Clovis-Stätten bezeichnet. Inzwischen kennt man Hunderte solcher Stätten in allen 48 Bundesstaaten der USA zwischen Kanada und Mexiko sowie in Mexiko selbst. Bald darauf tauchten auch im Amazonasgebiet und in Patagonien eindeutige Beweise menschlicher Präsenz auf. Diese Fakten lassen die Interpretation zu, daß die Clovis-Fundstätten die erste Besiedlung Nord- und Südamerikas durch den Menschen dokumentieren, der sich rasch vermehrte, ausbreitete und beide Kontinente in Besitz nahm.
Es mag zunächst verwunderlich klingen, daß die Clovis-Nachfahren innerhalb von weniger als tausend Jahren bis nach Patagonien an der Südspitze Südamerikas vordringen konnten, das immerhin rund 13 000 Kilometer von der amerikanischkanadischen Grenze entfernt liegt. Auf das Jahr bezogen, ergibt sich jedoch eine durchschnittliche Ausbrei tungsgeschwindigkeit von nur 13 Kilometern, eine für Jäger und Sammler unbeeindruckende Distanz, die sie nicht selten an einem einzigen Tag zurücklegen.
Erstaunt könnte man auf den ersten Blick auch darüber sein, daß sich Nord- und Südamerika offenbar in so kurzer Zeit mit Menschen füllte, daß diese einen Anreiz verspürten, weiter nach Süden in Richtung Patagonien vorzudringen. Aber auch diese Frage klärt sich rasch, betrachtet man die Zahlen etwas genauer. Angenommen, ganz Nord- und Südamerika waren am Ende von einer Jäger- und Sammlerpopulation mit einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von etwa 2,5 Personen pro Quadratkilometer (ein hoher Wert, gemessen an den Verhältnissen bei neuzeitlichen Jägern und Sammlern) besiedelt, so bot der Doppelkontinent rund zehn Millionen Menschen Platz. Selbst wenn es sich bei den Erstbesiedlern um nicht mehr als 100 Personen gehandelt hätte und ihre Zahl um nur 1,1 Prozent im Jahr gewachsen wäre, hätten ihre Nachfahren die Zehn-Millionen-Marke innerhalb von tausend Jahren leicht erreicht. Dabei ist ein Bevölkerungswachstum von 1,1 Prozent im Jahr alles andere als viel: Bei der Besiedlung unberührter Gebiete wurden in der jüngeren Geschichte regelmäßig Wachstumsraten von bis zu 3,4 Prozent registriert, beispielsweise bei der Besiedlung der Pitcairninsel durch die Meuterer von der Bounty und ihre tahitianischen Frauen.
Zu der Fülle von Fundstätten aus den ersten Jahrhunderten nach Ankunft der Clovis-Jäger in Amerika gibt es eine Parallele in Form der ebenfalls großen Zahl von Ausgrabungsstätten, die an die Besiedlung Neuseelands durch die Vorfahren der Maori in späterer Zeit erinnern. Eine Vielzahl von Fundstellen ist auch für die Anfangsphase der sehr viel früheren Besiedlung Europas durch anatomisch moderne Menschen sowie die Besiedlung von Australien/Neuguinea dokumentiert. Das bedeutet, daß alles, was wir über das Clovis-Phänomen und seine Ausbreitung über ganz Nord- und Südamerika wissen,
mit Erkenntnissen über andere unumstrittene Erstbesiedlungen unberührter Regionen übereinstimmt.
Was mag es bedeuten, daß sich die Clovis-Fundstätten aus den Jahrhunderten unmittelbar vor 11 000 v. Chr. derart häufen und nicht etwa aus der Zeit um 16 000 oder gar 21 000 v. Chr.? Zwei Dinge spielen hierbei eine Rolle: Sibirien war immer eine kalte Region, und zudem bedeckte während eines großen Teils des Eiszeitalters eine geschlossene Eiskappe ganz Kanada von West nach Ost und bildete ein unüberwindliches Hindernis. Wir haben
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