Arm und Reich
bereits gesehen, daß die zum Überleben in extremer Kälte erforderlichen Techniken erst nach der Invasion Europas durch anatomisch moderne Menschen vor etwa 40 000 Jahren aufkamen und daß Sibirien erst rund 20 000 Jahre später von Menschen besiedelt wurde. Irgendwann im Laufe der Jahrtausende gelangten jene frühen Sibirjaken nach Alaska. Das geschah entweder durch Überquerung der Beringstraße (die selbst heute nur 80 Kilometer breit ist) oder zu Fuß während einer Eiszeit, als die Beringstraße wegen des gesunkenen Meeresspiegels gerade trocken lag. Während der Jahrtausende, in denen sie wiederholte Male aus dem Wasser ragte, war die Bering-Landbrücke wohl bis zu 1500 Kilometer breit und von offener Tundra bedeckt, so daß sie von Menschen, die an kaltes Klima angepaßt waren, mühelos überquert werden konnte. Das letzte Mal versank die Landbrücke um 14 000 v. Chr. durch einen neuerlichen Anstieg des Meeresspiegels wieder in den Fluten. Ungeachtet dessen, ob jene frühen Sibirjaken nun per Pedes oder per Boot nach Alaska kamen, stammen die ältesten gesicherten Beweise für die Präsenz des Menschen in Alaska aus der Zeit um 12 000 v. Chr.
Bald danach öffnete sich ein eisfreier Nord-Süd-Korridor durch die kanadische Eiskappe und erlaubte den ersten Bewohnern Alaskas die Durchreise bis in die Präriegebiete nahe der heutigen kanadischen Stadt Edmonton. Damit war das letzte ernsthafte Hindernis zwischen Alaska und Patagonien beseitigt. Die Pioniere von Edmonton müssen ein Land vorgefunden haben, in dem es Wild im Überfluß gab und das ihnen reiche Nahrung bot. So vermehrten sie sich und breiteten sich allmählich nach Süden aus, um am Ende die gesamte Hemisphäre zu besiedeln.
Und noch etwas an dem Clovis-Phänomen entspricht unseren Erwartungen hinsichtlich der ersten Präsenz des Menschen südlich der kanadischen Eiskappe. Wie Australien/Neuguinea, so waren auch Nord- und Südamerika einst von Großtieren im Überfluß bevölkert. Vor 15 000 Jahren muß der amerikanische Westen ein ganz ähnliches Bild abgegeben haben wie die afrikanische Serengeti heute. Herden von Elefanten und Pferden durchstreiften, von Löwen und Geparden umpirscht, das Land. Dazu gesellten sich so exotische Arten wie Kamele und Riesenfaultiere. Wie in Australien/Neuguinea starben auch in Nord- und Südamerika die meisten großen Säugetierarten aus. Während die Woge des Aussterbens Australien wahrscheinlich vor über 30 000 Jahren erfaßte, donnerte sie über Nord- und Südamerika in dem Zeitraum vor etwa 12 000 bis 17 000 Jahren hinweg. Bei jenen amerikanischen Säugetierarten, deren Knochen am häufigsten gefunden wurden und eine besonders genaue Datierung zuließen, kann der Zeitpunkt des Aussterbens genauer bestimmt werden: Er muß um das Jahr 11 000 v. Chr. gelegen haben. Vielleicht am präzisesten gelang die Datierung beim Shasta-Faultier und der Harrington-Bergziege im Gebiet des Grand Canyon; beide Populationen verschwanden vor 11 100 Jahren plus/minus ein bis zwei Jahrhunderte. Nach vorliegenden Erkenntnissen fällt dieses Datum, ob zufällig oder nicht, genau mit dem Eintreffen der ersten Clovis-Jäger in dem Gebiet zusammen.
Die Entdeckung einer Vielzahl von Mammutskeletten mit Clovis-Speerspitzen zwischen den Rippen läßt vermuten, daß dieses zeitliche Zusammentreffen kein Werk des Zufalls war, sondern auf Ursache und Wirkung beruhte. Auf dem Weg nach Süden durch den Kontinent begegneten die Jäger Großtieren, die noch nie einen Menschen erblickt hatten und mithin leichte Beute waren – bis hin zur Ausrottung. Eine Gegentheorie besagt, daß die großen amerikanischen Säugetiere nicht von Menschenhand ins Jenseits befördert wurden, sondern einem Klimawechsel am Ende der letzten Eiszeit zum Opfer fielen, der sich (als ob die Arbeit des Paläontologen nicht schon schwer genug wäre) ebenfalls in der Zeit um 11 000 v. Chr. vollzog.
Ich persönlich habe mit der Klimatheorie des Aussterbens der amerikanischen Megafauna das gleiche Problem wie mit einer solchen Theorie für Australien/Neuguinea. Die Großtierarten des Doppelkontinents hatten bereits 22 Eiszeiten überlebt. Warum suchten sich die meisten von ihnen nun ausgerechnet die 23. aus, um sich in Anwesenheit all jener doch so harmlosen Menschen von dieser Welt zu verabschieden? Und warum starben sie in allen Lebensräumen gleichzeitig aus? Warum nicht bloß in denen, die am Ende der letzten
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