Arm und Reich
Geschichte sei das Werk »großer Männer«, dürfte kaum in der Lage sein, das allgemeinste Verlaufsmuster der Geschichte auf das Wirken einer Handvoll solcher herausragenden Gestalten zurückzuführen. Vielleicht gab Alexander der Große den schriftbesitzenden, Landwirtschaft treibenden, eisenverarbeitenden Staaten im westlichen Eurasien tatsächlich einen Anstoß und beeinflußte ihre weitere Entwicklung, doch er hatte nicht das Geringste damit zu tun, daß solche Staaten im westlichen Eurasien schon existierten, als in Australien noch Jäger und Sammler umherzogen, die weder Schrift noch Metallwerkzeuge kannten. Es bleibt dennoch eine wichtige offene Frage, wie bedeutsam und nachhaltig die Folgen des Handelns einzelner Persönlichkeiten für den Gang der Geschichte waren.
Das Fach Geschichtswissenschaft wird im allgemeinen nicht den Natur-, sondern den Geisteswissenschaften zugerechnet. So empfinden sich die meisten Historiker denn auch nicht als Naturwissenschaftler und machen während ihrer Ausbildung wenig Bekanntschaft mit den klassischen Naturwissenschaften und ihren Methoden. Weit verbreitet ist die Vorstellung von Geschichte als einer bloßen endlosen Ansammlung einzelner Fakten (»eine blöde Jahreszahl nach der anderen«).
Daß es schwieriger ist, allgemeine Prinzipien aus dem Studium der Geschichte als aus der Beobachtung der Umlaufbahnen von Planeten abzuleiten, leuchtet ein. Mir erscheinen die Schwierigkeiten jedoch nicht unüberwindlich. Vor ähnlichen Problemen stehen nämlich auch andere historische Fächer, die dennoch einen sicheren Platz im Kreis der Naturwissenschaften haben, wie Astronomie, Klimatologie, Ökologie, Evolutionsbiologie, Geologie und Paläontologie. Die Vorstellung, die sich die meisten Menschen von den Naturwissenschaften machen, beruht leider oft auf der Physik und einer Handvoll anderer Disziplinen mit ähnlichen Methoden. Ihre Vertreter blicken oft mit von Unwissenheit zeugender Geringschätzung auf Disziplinen herab, für die ihre Methoden ungeeignet sind und die sich deshalb anders behelfen müssen; dies gilt beispielsweise auch für meine eigenen beiden wissenschaftlichen Schwerpunkte, die Ökologie und die Evolutionsbiologie. Insofern habe ich viel Verständnis für Studenten der Geschichtswissenschaft und die Probleme, denen sie gegenüberstehen.
Historische Naturwissenschaften im weiteren Sinne (einschließlich Astronomie usw.) haben viele Merkmale gemein, die sie von nichthistorischen Naturwissenschaften, wie Physik, Chemie und Molekularbiologie, unterscheiden. Ich will vier Aspekte herausgreifen: Methodologie, Kausalität, Prädiktion und Komplexität.
In der Physik ist das Laborexperiment die Hauptquelle neuer Erkenntnisse. Grob skizziert, wird dabei der Parameter, der Gegen stand des Interesses ist, verändert und in parallelen Kontrollexperimenten konstant gehalten; andere Größen bleiben unterdessen strikt konstant; schließlich werden Experiment und Kontrollexperiment repliziert. Auf solchem Wege erhält man quantitative Daten. Diese Vorgehensweise, die auch in der Chemie und Molekularbiologie gut funktioniert, wird in den Köpfen vieler Menschen mit Wissenschaft schlechthin gleichgesetzt, so daß Experimente oft als Inbegriff der »wissenschaftlichen Methode« gelten. In den meisten historischen Naturwissenschaften sind Laborexperimente hingegen aus offenkundigen Gründen selten oder gar nicht möglich. Man kann die Entstehung einer Galaxie nun einmal nicht unterbrechen, Wirbelstürme oder Eiszeiten anhalten, Grizzlybären in einigen Nationalparks zu Forschungszwecken ausrotten oder die Evolution der Dinosaurier noch einmal neu starten. Die historischen Naturwissenschaften sind deshalb darauf angewiesen, Erkenntnisse auf andere Weise zu gewinnen, beispielsweise durch Beobachtung, Vergleich und sogenannte natürliche Experimente (auf die ich gleich noch eingehen werde).
Im Vordergrund des Interesses stehen in den historischen Naturwissenschaften Kausalketten unmittelbarer und eigentlicher Ursachen. Während Begriffe wie »eigentliche Ursache«, »Zweck« und »Funktion« weder in der Physik noch in der Chemie eine Rolle spielen, sind sie für das Verständnis lebender Systeme allgemein und menschlicher Aktivitäten im besonderen unverzichtbar. Ein Evolutionsbiologe, dessen Forschungsgegenstand Schneehasen sind, deren Fell im Sommer braun und im Winter weiß ist, würde sich beispielsweise nicht
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