Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
es dürften wohl kaum Merkmale der chinesischen Umwelt gewesen sein, die zur Entstehung einer an Homophonen reichen Spra­che beitrugen. War ein linguistischer oder kultureller Faktor der Grund für die ansonsten rätselhafte Tatsa­che, daß hochentwickelte Anden-Zivilisationen schrift-los blieben? War es etwas an Indiens Umwelt, das zur Entstehung einer starren Kastenhierarchie mit schwer­wiegenden Folgen für die technische Entwicklung auf dem Subkontinent führte? Lag es an der chinesischen Umwelt, daß die Lehren des Konfuzius auf fruchtbaren Boden fielen und kultureller Konservatismus zu einem prägenden Element der chinesischen Gesellschaft wurde, mit womöglich tiefgreifenden Folgen für den Lauf der Geschichte? Warum war missionarischer religiöser Ei­fer unter Europäern und Bewohnern des Nahen Ostens (Christen und Moslems) eine treibende Kraft bei dem Bemühen, fremde Länder zu kolonisieren oder zu er­obern, nicht aber unter Chinesen?
    Diese Beispiele verdeutlichen die Vielzahl von Fragen im Zusammenhang mit kulturellen Besonderheiten, die keinen Bezug zur Umwelt haben und anfangs von ge­ringer Bedeutung sind, im Laufe der Zeit jedoch zu we­sentlichen, dauerhaften Merkmalen einer Kultur werden können. Welcher Stellenwert ihnen zukommt, ist eine wichtige ungeklärte Frage. Einer Antwort nähert man sich wohl am ehesten, wenn man sich auf Muster des Ge­schichtsverlaufs konzentriert, die auch nach Berücksich­tigung wichtiger Umweltfaktoren rätselhaft bleiben.
    Und was ist mit dem Einfluß einzelner Gestalten der Geschichte? Ein bekanntes Beispiel aus dem 20. Jahr­hundert ist das knappe Scheitern des Attentats auf Hit­ler vom 20. Juli 1944, an das sich eine Erhebung in Ber­lin anschließen sollte. Die Pläne dafür hatten Deutsche geschmiedet, die den Krieg als verloren erkannten und Frieden schließen wollten, solange die Ostfront noch weitgehend auf russischem Territorium verlief. Hitler wurde durch die Explosion eines unter einem Konfe­renztisch plazierten Sprengsatzes mit Zeitzünder ver­wundet; er wäre wohl getötet worden, hätte die Akten­tasche mit dem Sprengsatz nur ein bißchen näher an dem Tisch gelegen, an dem er saß. Man darf anneh­men, daß die Landkarte Osteuropas heute anders aus­sähe und der kalte Krieg anders verlaufen wäre, wenn Hitler an jenem Tag den Tod und der Zweite Weltkrieg ein Ende gefunden hätte.
    Weniger bekannt, aber noch schicksalhafter war ein Verkehrsunfall im Sommer 1930, über zwei Jahre vor Hitlers Machtergreifung, bei dem eine Limousine, in der Hitler auf dem Beifahrersitz (dem »Todessitz«) saß, mit einem schweren Lastwagen zusammenstieß. Der Lkw bremste gerade noch rechtzeitig, so daß Hitlers Limou­sine nicht völlig zerquetscht wurde. Wegen des starken Einflusses, den die Psychopathologie Hitlers auf die Po­litik und den Erfolg der Nazis hatte, wäre der Zweite Weltkrieg (der früher oder später womöglich auch ohne ihn ausgebrochen wäre) sicher anders verlaufen, hätte der Lkw-Fahrer eine Sekunde später auf die Bremse ge­treten.
    Man kann unschwer eine Reihe weiterer berühmter Gestalten aufzählen, die wie Hitler den Verlauf der Ge­schichte nachhaltig beeinflußten, etwa Alexander der Große, Augustus, Buddha, Jesus, Lenin, Martin Luther, der Inka-Herrscher Pachacuti, Mohammed, Wilhelm der Eroberer und der Zulu-Häuptling Shaka, um nur einige zu nennen. Inwiefern griffaber jeder von ihnen tatsächlich in die Geschichte ein und war nicht »bloß« zur rechten Zeit am rechten Ort? Eine klare Antwort gibt der Historiker Thomas Carlyle: »Die Weltgeschichte, sprich die Geschichte des vom Menschen auf Erden Er­reichten, ist im Kern nichts anderes als die Geschichte großer Männer, die hier wirkten.« Die entgegengesetz­te Position nimmt der preußische Staatsmann Otto von Bismarck ein, der das politische Geschehen im Gegen­satz zu Carlyle lange Zeit von innen erlebte: »Politik ist, daß man Gottes Schritt durch die Weltgeschichte hört, dann zuspringt und versucht, einen Zipfel seines Man­tels zu fassen.«
    Ebenso wie kulturelle Besonderheiten tragen auch ein­zelne Menschen mit ihrem Handeln zur Unberechen­barkeit des Geschichtsverlaufs bei. Deshalb mag es wohl sein, daß sich Geschichte nicht durch Kräfte der Um­welt beziehungsweise irgendwelche anderen generalisier­baren Faktoren erklären läßt. Für das Anliegen dieses Buchs spielten sie jedoch keine Rolle, denn selbst der leidenschaftlichste Verfechter der These, die

Weitere Kostenlose Bücher