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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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mit der Feststellung der unmittelbaren Ursache des Farb­wandels begnügen, etwa der molekularen Beschaffen­heit der Fellpigmente und der biosynthetischen Abläu­fe. Wichtiger erschienen ihm Fragen nach der Funktion (Tarnung gegen natürliche Feinde?) und der eigentlichen Ursache (natürliche Selektion, ausgehend von einer ein­stigen Hasenpopulation mit ganzjährig gleicher Fellfär­bung?). Ähnlich würde sich ein europäischer Historiker nicht damit begnügen wollen, den Zustand Europas in den Jahren 1815 und 1918 als den eines Kontinents zu beschreiben, in dem nach verlustreichem Krieg wieder Frieden eingekehrt war. Das Verständnis der sehr unter­schiedlichen Ketten von Ereignissen, die zu den beiden Friedensverträgen führten, ist unverzichtbar, wenn man begreifen will, warum nach dem Friedensschluß von 1918 nur zwei Jahrzehnte vergingen, bis ein noch ver­heerenderer Krieg ausbrach, nicht aber nach dem Frieden von 1815. Chemiker versuchen indes nicht, Sinn und Zweck im Zusammenstoß von Gasmolekülen zu erken­nen, und sie suchen auch nicht nach einer letzten Erklä­rung für solche Kollisionen.
    Ein weiterer Unterschied zwischen historischen und nichthistorischen Naturwissenschaften betrifft den Stellenwert von Vorhersagen. In Chemie und Physik ist die Nagelprobe dafür, ob man ein System verstanden hat, die richtige Vorhersage seines künftigen Verhaltens. Auch in dieser Hinsicht blicken viele Physiker auf Evolutions­biologen und Historiker herab, die damit offenbar nicht dienen können. In den historischen Naturwissenschaften können zwar Aposteriori-Erklärungen geliefert werden (beispielsweise, warum der Einschlag eines Asteroiden vor 66 Millionen Jahren zum Aussterben der Dinosaurier führte, von den meisten anderen Tierarten aber überlebt wurde), doch mit Apriori-Aussagen tut man sich schwer (ohne Erkenntnisse über das tatsächliche Geschehen wä­ren wir unsicher, welche Arten genau aussterben wür­den). Allerdings werden in der Geschichtswissenschaft und in den historischen Naturwissenschaften durchaus Vorhersagen darüber getroffen (und getestet), was uns künftige wissenschaftliche Entdeckungen über Ereignisse der Vergangenheit enthüllen werden.
    Die Eigentümlichkeiten historischer Systeme, die Vorhersageversuche so kompliziert machen, lassen sich auf verschiedene Weise beschreiben. Man kann zum Bei­spiel darauf hinweisen, daß menschliche Gesellschaf­ten und Dinosaurier äußerst komplexe und durch eine enorme Vielzahl unabhängiger Variablen gekennzeich­net sind, die wiederum in Rückkoppelungsbeziehungen zueinander stehen. Aus dieser Beschaffenheit ergibt sich, daß unbedeutende Veränderungen auf niedriger Orga­nisationsebene weitreichende Verände rungen auf höhe­rer Ebene nach sich ziehen können. Ein typisches Bei­spiel ist die Folge der Bremsreaktion jenes Lkw-Fahrers in Hitlers beinahe tödlichem Verkehrsunfall von 1930 für das Leben von hundert Millionen Menschen, die im Zweiten Weltkrieg getötet oder verwundet wurden. Obwohl unter Biologen weitgehend Einigkeit darüber herrscht, daß biologische Systeme letzten Endes durch ihre materiellen Eigenschaften vollständig determiniert sind und den Gesetzen der Quantenmechanik gehorchen, folgt aus diesem deterministischen Kausalzusammen­hang aufgrund der Komplexität solcher Systeme nicht, daß sich ihr Verhalten in der Praxis tatsächlich vorher­sagen läßt. So hilft die Quantenmechanik wenig, wenn man beispielsweise verstehen will, warum in Australi­en so viele Beuteltierarten durch eingeführte Raubtie­re ausgerottet wurden oder warum die Alliierten und nicht die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg den Sieg davontrugen.
    Jeder Gletscher, Spiralnebel oder Wirbelsturm, jede menschliche Gesellschaft und jede biologische Spezies, ja selbst jedes Individuum und jede einzelne Zelle von Geschöpfen mit geschlechtlicher Fortpflanzung ist ein­zigartig, da sie von so vielen Größen beeinflußt wird und sich aus so zahlreichen variablen Teilen zusammen­setzt. Dagegen sind in der Physik alle Elementarteilchen oder Isotope und in der Chemie alle Moleküle des glei­chen Typs identisch. Physiker und Chemiker sind des­halb in der Lage, allgemeine deterministische Gesetze auf makroskopischer Ebene zu formulieren, während sich Biologen und Historiker mit statistischen Trends be­gnügen müssen. Ich kann beispielsweise mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen, daß von den nächsten 1000 Babys, die in der medizinischen

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