Arm und Reich
Abteilung der University of California, wo ich arbeite, zur Welt kommen, nicht weniger als 480 und nicht mehr als 520 männlichen Geschlechts sein werden. Ich konnte jedoch beim besten Willen nicht im voraus wissen, daß meine beiden eigenen Kinder Söhne sein würden. Ähnlich können Historiker feststellen, daß die Wahrscheinlichkeit, daß aus Stammes gesellschaften Häuptlingsreiche wurden, mit der Größe und Dichte der örtlichen Population sowie der Möglichkeit zur Erzeugung von Nahrungsmittelüberschüssen wuchs. Jede solche örtliche Population ist jedoch auf ihre Weise einzigartig, mit der Folge, daß in den Hochländern Mexikos, Guatemalas, Perus und Madagaskars, nicht aber im Hochland Neuguineas oder Guadalcanals Häuptlingsreiche entstanden.
Eine weitere Möglichkeit, die Komplexität und mangelnde Vorhersagbarkeit historischer Systeme ungeachtet ihrer eigentlichen Determiniertheit zu beschreiben, ist der Verweis auf die langen Kausalketten, die die letztendlichen Auswirkungen von den eigentlichen Ursachen, die womöglich außerhalb der Reichweite der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin liegen, trennen können. So geht das Aussterben der Dinosaurier möglicherweise auf den Einschlag eines Asteroiden zurück, dessen Bahn durch die Gesetze der klassischen Mechanik vollständig determiniert war. Hätte es vor 67 Millionen Jahren schon Paläontologen gegeben, hätten diese das nahende Ende der Dinosaurier indes nicht vorhersagen können, da Asteroiden und ihre Bahnen in einen Wissenschaftsbereich fallen, der mit Dinosauriern sonst nichts zu tun hat. Ein weiteres Beispiel ist die »Kleine Eiszeit« zwischen 1300 und 1500 n. Chr., die zum Verschwinden der grönländischen Wikinger beitrug, aber von keinem Historiker und wahrscheinlich nicht einmal von modernen Klimatologen hätte vorausgesagt werden können.
Die Probleme von Historikern bei der Suche nach Kausalbeziehungen in der Geschichte menschlicher Zivilisationen ähneln somit im großen und ganzen den Schwierigkeiten, vor denen auch Astronomen, Klimatologen, Ökologen, Evolutionsbiologen, Geologen und Paläontologen stehen. Jede dieser Disziplinen leidet, die eine mehr, die andere weniger, unter der Unmöglichkeit, kontrollierte experimentelle Interventionen vorzunehmen und zu wiederholen, unter der Komplexität, die mit der enormen Vielzahl von Variablen einhergeht, unter der daraus resultierenden Einzigartigkeit jedes Systems und unter der Unmöglichkeit, allgemeine Gesetze zu formulieren, sowie unter der Schwierigkeit der Vorhersage künftiger Eigenschaften und Verhaltensweisen des jeweiligen Untersuchungsgegenstands. Prognosen sind in der Geschichte wie in den historischen Naturwissenschaften am ehesten möglich, wenn große zeitliche und räumliche Maßstäbe gewählt werden, da sich dann die Einzigartigkeit von Millionen von Einzelereignissen tendenziell ausgleicht. So wie ich die Geschlechterverteilung der nächsten 1000 Neugeborenen, nicht aber das Geschlecht meiner beiden eigenen Kinder vorherzusagen vermochte, können Historiker Faktoren erkennen, durch deren Wirken der Ausgang der Kollision zwischen amerikanischen und eurasischen Gesellschaften nach 13 000jähriger getrennter Entwicklung zwangsläufig war, nicht aber das Ergebnis der amerikanischen Präsident schaftswahlen von 1960. Der Verlauf einer einzigen im Fernsehen übertragenen Live-Debatte der beiden Kandidaten im Oktober 1960 hätte Nixon statt Kennedy den Wahlsieg bescheren können; die Eroberung Amerikas durch Europäer war dagegen nicht durch Äußerungen einzelner Personen zu verhindern.
Wie kann nun die Humangeschichte von den Erfahrungen der historischen Naturwissenschaften profitieren? Als nützlich erwiesen haben sich die vergleichende (komparative) Methode und sogenannte natürliche Experimente. Weder Astronomen, die über die Entstehung von Galaxien forschen, noch Historiker können zwar ihre Systeme in kontrollierten Laborexperimenten manipulieren, doch beide können sich natürlicher Experimente bedienen, indem sie Systeme miteinander vergleichen, in denen ein vermuteter Kausalfaktor an- oder abwesend (beziehungsweise stark oder schwach ausgeprägt) ist. So waren Epidemiologen, denen die Möglichkeit versperrt ist, Menschen zu Versuchszwecken größere Mengen Salz zu verabreichen, dennoch in der Lage, die Folgen einer salzreichen Ernährung zu ermitteln, indem sie Personengruppen verglichen,
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