Arm und Reich
legt den Schluß nahe, daß die Domestikation dort erfolgt sein muß, wo die wilden Vorfahren heimisch sind. So werden Kichererbsen von Kleinbauern im Mittelmeerraum, in Äthiopien und weiter östlich bis nach Indien angebaut, wobei auf den indischen Subkontinent heute 80 Prozent der Weltproduktion dieser Frucht entfallen. Man könnte daraus den irrtümlichen Schluß ziehen, daß die Kichererbse wohl in Indien domestiziert wurde. Nun kommen aber die wildwachsenden Vorfahren der Kichererbse nirgendwo außer im Südosten der Türkei vor. Die Interpretation, daß Kichererbsen tatsächlich dort domestiziert wurden, wird noch gestützt durch die Tatsache, daß die ältesten Funde möglicherweise domestizierter Kichererbsen aus neolithischen Ausgrabungsstätten im Südosten der Türkei und im benachbarten Syrien aus der Zeit um 8000 v. Chr. stammen, während die Kichererbse in Indien erst mehr als 5000 Jahre später archäologisch in Erscheinung trat.
Bei einer zweiten Methode zur Ermittlung des Domestikations gebiets von Pflanzenoder Tierarten werden die Zeitpunkte, an denen die domestizierte Form an verschiedenen Orten zum erstenmal auftrat, in eine Karte eingezeichnet. Der jeweils früheste Ort kommt dabei als Stätte der ursprünglichen Domestikation in Betracht – vor allem, wenn die wilden Ahnen dort ebenfalls vorkamen und die Daten des ersten Auftretens an anderen Orten mit zunehmender Entfernung vom mutmaßlichen Ort der Erstdomestikation immer jünger werden, was auf einen entsprechenden Ausbreitungsverlauf hindeutet. Zum Beispiel tauchte Emmerweizen erstmals um 8500 v. Chr. im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds auf. Bald darauf breitete sich die Pflanze immer weiter nach Westen aus, bis sie um 6500 v. Chr. Griechenland und um 5000 v. Chr. das Gebiet des heutigen Deutschland erreichte. Diese Daten lassen darauf schließen, daß Emmerweizen in Vorderasien domestiziert wurde, wofür auch spricht, daß wilder Emmer heute nur in dem Gebiet zwischen Israel, dem westlichen Iran und der Türkei vorkommt.
Kompliziert wird es jedoch, wie wir sehen werden, in vielen Fällen, in denen die gleichen Pflanzenoder Tierarten an verschiedenen Orten unabhängig voneinander domestiziert wurden. Entdeckt werden derartige Fälle oft anhand von morphologischen, genetischen oder chromosomalen Unterschieden zwischen Vertretern der gleichen Kulturpflanzen oder Haustiere in verschiedenen Gebieten. So besitzt beispielsweise das indische Zeburind im Unterschied zu den Rinderrassen des westlichen Eurasien einen Höcker. Erbgutanalysen zeigen, daß sich der gemeinsame Stammbaum der heutigen Rinderrassen Indiens und Westeurasiens bereits vor Hunderttausenden von Jahren gabelte, also lange bevor die Domestikation von Tieren irgendwo auf der Welt begann. Das bedeutet aber, daß Rinder in Indien und Westeurasien innerhalb der letzten 10 000 Jahre unabhängig voneinander aus wilden indischen und westeurasischen Rinderrassen, die vor Hunderttausenden von Jahren den gemeinsamen Stammbaum verließen, domestiziert wurden.
Abbildung 4.1. Unabhängige Entstehungszentren der Landwirtschaft. Bei den mit Fragezeichen markierten Regionen besteht Ungewißheit, ob die Landwirtschaft tatsächlich unbeeinflußt von anderen Zentren entstand beziehungsweise (im Fall Neuguineas) welches die ersten Kulturpflanzen waren .
Kommen wir nun zurück auf die bereits erwähnten Widersprüche im Zusammenhang mit der Entstehung der Landwirtschaft. Wo, wann und wie entwickelte sie sich in verschiedenen Teilen der Erde?
Der eine Extremfall sind Gebiete, in denen die Landwirtschaft völlig unabhängig entstand und wo etliche heimische Pflanzen (und in manchen Fällen auch Tiere) domestiziert wurden, lange bevor Kulturpflanzen oder Haustiere aus anderen Regionen hinzukamen. Es gibt nur fünf solcher Gebiete, für die nach heutigem Forschungsstand überzeugende, detaillierte Anhaltspunkte vorliegen: Vorderasien, auch bekannt als Naher Osten oder Fruchtbarer Halbmond, China, Mesoamerika (Zentral- und Südmexiko mit südlich angrenzenden Regionen), die südamerikanischen Anden und eventuell auch das benachbarte Amazonasbecken sowie der Osten der heutigen USA (Abbildung 4.1). Einige oder vielleicht auch alle diese Gebiete umfaßten möglicherweise mehrere benachbarte Zentren, in denen die Landwirtschaft mehr oder weniger unabhängig erfunden wurde, wie beispielsweise im Tal des Gelben Flusses in Nordchina
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