Armageddon 06 - Der nackte Gott
verschickte sie eine allgemeine Anfrage auf Netzzugriff – ohne jede Antwort.
Weglaufen und verstecken, hatte Charlie zu ihr gesagt. Er hatte leicht reden. Wohin? Niemand würde in dieser Nacht einer Fremden öffnen. Wahrscheinlich würde man sie bereits für das bloße Klopfen und Fragen erschießen.
Eine Katze miaute und sprang von einer benachbarten Mauer, um über die Straße zu rennen. Louise rollte über den Boden und brachte ihren Erinnerungslöscher in einer fließenden Bewegung in Anschlag, noch bevor sie das Geräusch bewußt registrieren konnte. Die Katze, ein Tiger mit dichtem Fell, strich vorüber und bedachte sie mit einem verächtlichen Blick.
Louise stieß einen leisen Seufzer aus, und ihre Muskeln entspannten sich wieder. Das Waffenkontrollprogramm war immer noch im Primärmodus. Sie deaktivierte es, bevor sie sich mühsam wieder auf die Beine quälte und den Schmutz von ihren Knien und der Weste klopfte.
Die Katze war noch immer zu sehen, eine deutliche Silhouette vor dem holographischen Dunst, der wie ein Schleier über dem Ende der Straße lag. Sie wedelte arrogant mit dem Schwanz.
Louise wurde bewußt, daß sie noch immer viel zu nahe bei der Holloway Road war. Ihre Verfolger würden die Straße herunter kommen und jede Nebengasse absuchen. Fletcher hatte erzählt, daß sie Menschen spüren konnten, ohne daß sie etwas sahen.
Louise aktivierte die Karte von Zentral-London, die sie in einer neuralen Speicherzelle abgelegt hatte, und ging vom Licht weg. Der Erinnerungslöscher wanderte zurück in ihre Westentasche, während sie unschlüssig darüber nachdachte, wie sie den Suchtrupps am besten entgehen konnte. Es gab zwei Möglichkeiten, entweder, sie blieb an einem Ort und hielt sich dort versteckt (vorausgesetzt, sie fand einen ungenutzten Raum oder ein leerstehendes Lagerhaus), oder sie blieb ununterbrochen auf den Beinen. Die Chancen waren nicht auszurechnen, hauptsächlich, weil sie nicht wußte, womit sie es zu tun hatte, mit einer organisierten Menschenjagd oder einem Haufen von Besessenen, die desinteressiert umherstolperten.
Das Studium der Karte half ihr auch nicht weiter; sie fand keinerlei Bezugspunkt. Ohne wirkliches Ziel war eine Straße wie die andere. Die Karte half ihr lediglich dabei, sich von den Hauptstraßen fernzuhalten.
Vielleicht sollte ich einfach nach einem Versteck suchen. Schließlich ist es genau das, was Charlie vorgeschlagen hat.
Einem Impuls gehorchend rief sie die Adresse des Ritz’ auf. Sie mußte mehrfach die Vergrößerung ändern, so weit lag das Hotel von ihrer gegenwärtigen Position entfernt.
Das Ritz schied also aus. Zu schade. Im Ritz würde ganz bestimmt niemand nach ihr suchen.
»Andy!« flüsterte sie erschrocken. Der einzige Mensch, den sie in London kannte. Und der sich niemals von ihr abwenden würde.
Sie aktivierte seine Adresse und ging damit das Einwohnerverzeichnis Londons durch, das sie zusammen mit all dem anderen Unsinn in ihre neurale Nanonik geladen hatte, der für das persönliche Überleben in einer Arkologie als unentbehrlich galt. Manche Leute verbanden ihre elektronische Adresse nicht mit einem physischen Wohnort. Nicht so Andy. Er lebte in Islington, irgendwo auf der Halton Road. Ein winziger blauer Stern leuchtete auf der Karte.
Zwei Meilen entfernt.
»Lieber Jesus, bitte gib, daß er zu Hause ist.«
Sie ketteten Fletcher mit Hand- und Fußschellen an den Altar, durch die elektrischer Strom floß, und neutralisierten auf diese Weise seine energistischen Fähigkeiten. Dann rissen sie ihm die Kleider vom Leib und schnitten obszöne Runen in sein Fleisch. Sie rasierten ihn. Sie verbrannten einen Stapel Bibeln und Gebetbücher unter seinen Füßen und benutzten die Asche, um ein Pentagramm rings um ihn auf den Boden zu schmieren. Sie hängten ein umgedrehtes Kreuz über seinen Kopf. Es baumelte an einem verwitterten, brüchig gewordenen Seil.
Geister glitten vorüber und drückten ihm ihr Mitleid aus.
»Es tut uns leid«, flüsterten sie. »So unendlich leid.« Vergangene Helden, gedemütigt und herabgesetzt durch ihre Entmannung. Die Besessenen spuckten nach ihnen und scheuchten sie aus dem Weg.
Die St. Paul’s Cathedral war allein vom flackernden Licht aus Kohlenbecken und Kerzenreihen erhellt, und das hohe Deckengewölbe lag in Dunkelheit verborgen. Statt Weihrauch hing der Geruch schwitzender Leiber und gegrillten Essens in der Luft. Gebete waren harter Rockmusik aus einem Ghettoblaster gewichen, und zwischen
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