Armageddon 2 - Das Menü
Runes Jüngern zu sein, und der Herumlungerer
Koeslar.
Wie üblich lag Koeslar mit Rune im Disput. Es sei wissen-
schaftlich unmöglich, so erklärte er, dass ein Mensch un-
sichtbar werden könne. Rune hatte zu diesem Zeitpunkt ei-
nen sehr geistesabwesenden Ausdruck in den Augen (später
berichtete er mir, dass er seinen Röntgenblick getestet hatte),
doch schließlich richtete er sich zu seiner vollen, Ehrfurcht
gebietenden Größe auf, blickte auf Koeslar herab und erklärte:
›Unsichtbarkeit ist die leichteste Sache der Welt, wenn man
weiß, wie man es anstellen muss.‹
Koeslar verlangte zu erfahren, wie man es anzustellen hat-
te, doch Rune erwiderte lediglich, dass ein solches Geheimnis
in den falschen Händen (namentlich denen Koeslars) zu kata-
strophalen Ergebnissen führen würde. Koeslar kippte ein wei-
teres Glas Absinth hinunter [Wells macht geltend, dass Koes-
lar ein ›unmäßiger Trinker‹ gewesen sein soll, wohingegen
Rune ihn rundheraus als ›versoffene Made‹ bezeichnete] und
brüllte: ›Na gut, dann zeigen Sie’s uns!‹
Rune seufzte resigniert, legte seine großen Hände an die
Schläfen und begann auf den Absätzen vor und zurück zu
schaukeln. Während wir ihn erwartungsvoll anstarrten,
kühlte sich die Luft spürbar ab, und ich bemerkte, dass der
Rauch von Runes Zigarette mit einem Mal bewegungslos in
der Luft hing.
Zu unserem äußersten Erstaunen wurde der große Magier
an den Extremitäten unscharf, und innerhalb weniger Se-
kunden war er völlig verschwunden. Koeslar war bei dem
Anblick ohnmächtig geworden und kam erst wieder zu sich,
als der Inhalt eines in der Nähe stehenden Spucknapfs über
ihm ausgeleert wurde.‹
So endet Wells’ Bericht über diese Episode. Koeslars Version unter-
scheidet sich ganz beträchtlich. In seinem Buch Hugo Rune, Frau-
enschläger und Betrüger (inzwischen glücklicherweise vergriffen)
erzählt er Folgendes:
›Rune, der wie stets an den Rockschößen seiner Gönner
hing, hatte sich in unsere Gesellschaft insinuiert. Als er be-
trunken war, fing er an, uns mit seinen dahergeholten Be-
hauptungen zu überschütten. ›Verschwinden Sie doch end-
lich, Rune!‹, witzelte ich, womit ich zum Ausdruck bringen
wollte, dass er endlich gehen und uns in Ruhe lassen sollte.
›Das werde ich, das werde ich!‹, lallte Rune. ›Hier und auf
der Stelle!‹
Ich wusste sogleich, dass er einen von seinen unerträgli-
chen Schaustellertricks zum Besten geben wollte, und da ich
sein Geschick als Bauchredner kannte, konnte ich mir sehr
gut ausmalen, was er vor hatte. Also beobachtete ich jede sei-
ner Bewegungen mit großer Sorgfalt. Und als er schließlich
ausrief: ›Ist das dort drüben nicht Oscar Wilde?‹, und wie
verrückt in Richtung Tür zeigte, sah ich ganz allein, wie er
sich unter den Tisch duckte.
Endlich hatte ich die gottgegebene Gelegenheit, diesen
Scharlatan öffentlich zu demaskieren, und ich packte sie
sogleich beim Schopf. Ich trat um den Tisch herum und sagte
den anderen, dass sie mich genau beobachten sollten, wäh-
rend ich mit dem Fuß ausholte, um nach dem unter dem
Tisch kauernden Betrüger zu treten. Zu seiner ewigen
Schande und Unehre biss er mit doch tatsächlich in die Wa-
de.‹
Die beiden Erzählungen dieses Zwischenfalls klaffen derart ausein-
ander, dass der Leser einigen Zweifel hegen mag, was sich nun an
jenem schicksalhaften Tag tatsächlich ereignet hat. Glücklicherweise
existiert noch eine Kopie der Übersetzung des sich anschließenden
Gerichtsverfahrens, und Runes eigene Aussage, unter Eid abgege-
ben, lautet folgendermaßen:
›Es war das erste Mal, dass ich mich völlig unsichtbar ge-
macht hatte, und ich hatte nicht erwartet, dass ich im Stadi-
um der Nicht-Materie nicht mehr länger den Kräften der
Gravitation unterworfen wäre. Während ich also vollkommen
bewegungslos in Raum und Zeit verharrte, drehte sich die
Erde ohne mich weiter. Ich merkte fast im gleichen Augen-
blick, dass ich in den Boden des Restaurants einzusinken be-
gann, und wäre ich nicht hastig wieder rematerialisiert, wäre
ich dieser Welt ohne Zweifel auf tragische Weise verloren ge-
gangen. Es war im Moment meiner Rematerialisation, dass
ich feststellte, wie jemand heftig nach mir trat. Ich tat das
Einzige, was ich zu meiner Verteidigung unternehmen konn-
te. Ich bin in allen Punkten der Anklage unschuldig, Euer
Ehren. Möge der große Architekt unseres Universums
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