"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
unternehmen. Das war unglaublich
anstrengend, weil deren Alltagsprobleme völlig an mir vorbeigingen, mir sogar Angst machten. Weil sie mir Fragen stellten, die ich nicht beantworten konnte. Sie standen schließlich auf der anderen Seite! Ich fand alles erschöpfend und beängstigend. Sogar den Einkauf im Supermarkt. Ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, wieder ein normales Leben mit Job und allem Drum und Dran zu meistern. War heilfroh, wenn ich am Sonntagabend in den verrauchten Gemeinschaftsraum der Klinik zurückkam. Aber je schlapper ich wurde und je bedrohlicher mir die freien Wochenenden erschienen, desto mehr Angst bekam ich auch. Eingesogen zu werden von diesem Paralleluniversum in ein schwarzes Loch der Behaglichkeit. Je länger ich blieb, desto schwerer würde es am Ende sein, das Rettungsboot zu verlassen und wieder ins Wasser zu springen. Und womöglich das Schwimmen in der Zwischenzeit ganz verlernt zu haben, weil ich immer nur übers Fliegen redete. Nach sechs Wochen habe ich die Klinik verlassen. »Sie können jederzeit wiederkommen! «, sagte mir Dr. B. zum Abschied. Na, herzlichen Dank auch. Ich bin schließlich nicht Robbie Williams.
Magenfeeling …
Und jetzt bin ich Korrespondent in London. Wo ich immer hinwollte. Und bin schon wieder unglücklich und verzagt. Voller Angst, in eine neue Depression zu rutschen. Ich bin nah am Wasser gebaut, kraftlos und voller Angst. Ziehe mich zurück in mich selbst. Vergesse mittendrin, was ich gerade zu tun im Begriff war. Unangenehm vertraute Signale. Mein Tagebuch liegt aufgeschlagen auf dem Wohnzimmertisch. Einen einzigen
Satz habe ich gestern geschrieben – dann wusste ich nicht mehr weiter. Es ist auch so sinnlos, seit Jahr und Tag immer wieder dieselben Befindlichkeiten zu Papier zu bringen. »Mit 47 sollte man kein Magenfeeling mehr haben«, steht da. »Magenfeeling« ist eine Wortschöpfung meines Bruders. Er starb 1993 an einer Überdosis Heroin. Magenfeeling beschreibt jenes ungenehme Ziehen in der Bauchgegend, das mich seit meiner Kindheit begleitet. Es kann verschiedene Intensitäten annehmen: von leichtem Druck bis hin zum Gefühl, eine glühende Kanonenkugel verschluckt zu haben. Eine Mischung aus Angst, schlechtem Gewissen, Unsicherheit und vager Hoffnung. Als Kind habe ich es gehabt, wenn ich im Edeka-Laden beim Klauen erwischt wurde – und mich auf dem Heimweg fragte, ob meine Eltern schon Bescheid wissen. Vor einer Klassenarbeit, für die ich nicht gelernt hatte, quälte mich das gleiche Gefühl. Oder als Erwachsener, wenn ich aus einem fremden Bett zu meiner Partnerin heimkehrte. Vor einem wichtigen Interview, auf das ich mich nicht vorbereitet hatte.
Mein ganzes Leben war ein einziges Krisenmanagement aus Aufschieben, Konfliktvermeidung, Herummogeln, Dinge-auf-den-letzten-Drücker-Erledigen, Bluffen – und der Hoffnung, dass ich damit durchkomme.
Ich ruhe nicht in mir. Fühle mich permanent im Wartestand. Wobei ich keine Ahnung habe, worauf ich eigentlich warte. Was das sein soll, auf was ich hinlebe. Meine Güte, ich bin 47 – was soll da noch kommen? Ich habe eine Menge erreicht – aber nichts bewahren können. Ich habe als Journalist die ganze Welt bereist, Brandt und Gorbatschow interviewt und aus Kriegen berichtet. Mein
Leben bestand aus vielen Kicks – aber wenig anhaltender Freude. Kaum war ein Ziel erreicht, fragte ich mich: Was kommt jetzt? Kaum hatte ich die Traumfrau erobert, trieb mich die Angst vor ermüdender Beziehungsroutine wieder auf die Jagd. Mein Leben war eine einzige Suche, beherrscht von der Angst, nicht das zu kriegen, was ich suche – nur dass ich nicht wusste, was das eigentlich ist.
Vielleicht doch noch mal eine Therapie?
Ja, ich habe tatsächlich darüber nachgedacht. Die vierte dann. Oder die Fünfte, wenn man die Klinik mitzählt. Habe vermutlich die Chance nicht gut genutzt. Wenn eine Therapie mich nicht weiterbringt, liegt das ganz allein an mir – das lernst du gleich am Anfang. Ich bin ein Therapie-Versager. Statt mir Selbstvertrauen zu geben, fühlte ich mich nach jeder Therapie über kurz oder lang als gescheitert. Warum sind Sie eigentlich immer so gnadenlos zu sich selbst? Eine Therapeutin hat das immer wieder zu mir gesagt. Also gut – ich bin nicht gescheitert. Ich habe einen wichtigen Schritt gemacht und ich sollte mir zugestehen, dass ich damals einfach noch nicht so weit war. Und deshalb ist jetzt möglicherweise genau der richtige Zeitpunkt, in einer neuen Therapie mal den
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