"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
sehne mich nach einer Umarmung oder doch zumindest einer menschlichen Stimme. Wahnsinnig vor Traurigkeit und Unruhe laufe ich durch das Haus. Ich würde gerne rauchen, Wein trinken, Kaffee kochen, Schokolade essen. Ich überlege ernsthaft, Britta anzurufen. Es ist drei Uhr morgens, aber das wäre kein Problem. Ich bin sicher, dass sie mir zuhört und tröstende Worte bereithält. Geradezu erleichtert darüber wäre, dass ich mich ihr endlich öffne. Aber irgendwie wäre es ein bisschen wie rauchen.
Ich fühle mich verloren. Langweile mich. Sitze im Dunkeln auf dem Sofa, starre regungslos auf den schwarzen Bildschirm und weiß nichts mit mir anzufangen. Ich fühle mich unendlich einsam und leer.
Ich ziehe mich an, verlasse das Haus. Morgendämmerung kündigt sich zartrosa am nachtblauen Himmel an. Die Großstadtluft ist noch frisch und unverbraucht zu dieser frühen Stunde. Das Leben erwacht zögerlich. Eine Kehrmaschine fegt die Überreste der Nacht von den Straßen. In Plastikfolie verpackte Zeitungsstapel liegen vor den Kiosken. Lastwagen beliefern Supermärkte mit frischer Ware. Eine Klappe poltert, Arbeiter unterhalten sich leise, einzelne Schritte auf dem Bürgersteig, das Knattern eines Mopeds, der Dieselmotor eines Busses – ich kann die Geräusche scharf voneinander trennen. Später am Tag werden sie sich zu einer lärmenden Kakofonie vermischen. Die Schatten einer bösen Nacht verflüchtigen sich. Lösen sich auf wie zähe Nebel eines verstörenden Albtraums. Am Picadilly Circus wird der Verkehr lebhafter. Rote Doppeldeckerbusse und schwarze Taxis brausen um den Platz. Ich schaue auf das blinkende Farbenspiel der riesigen Leuchtreklamen und fühle mich sehr lebendig. Spüre dieselbe Faszination wie damals, als ich ganz neu in der Stadt meiner Träume war und völlig ergriffen: »Wow! Ich – Klein-Holgi aus der nordhessischen Provinz – bin tatsächlich in London.«
Ich liebe Britta nicht – das sehe ich plötzlich mit erschreckender Klarheit. Wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich bin, habe ich es schon lange gewusst. Mein Herz – das in solchen Dingen immer klüger ist – hat es gewusst. Mein Verstand wollte es nicht wahrhaben. Weil Britta eine attraktive, kluge, humorvolle Frau ist. Weil all meine Freunde mir sagen, welches Glück ich mit dieser Frau habe. Und dass ich es um Gottes willen nicht wieder versemmeln soll. Weil ich mich noch nie getrennt
habe, solange keine neue Liebe im Spiel war. Weil ich Torschlusspanik habe mit fast 50. Weil ich schon schlechtere Beziehungen hatte. Sehr viel schlechtere. Weil Britta mir nie das Herz brechen könnte. Jedes Mal, wenn mich die Zweifel im Bauch drücken, erfindet der Kopf ein neues »weil«. Also lasse ich es laufen. Dem Gespräch über Perspektiven weiche ich aus. Schweige mich aus der Affäre, winde mich um Klarheit, bin gernervt von ihrem Drängeln und Nörgeln. Bis irgendwann die Frage kommt: Was willst DU denn eigentlich?
Genau da liegt das Problem: Ich habe keine Ahnung! Ich gehe auf die 50 zu und schlingere in wilden Ausweichmanövern durchs Leben. Ich möchte endlich mal irgendwo ankommen.
Gutenachtgeschichten
»Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu einer neuen Sendung der Space Squirrels«, sagt mein Sohn am Telefon, und dann setze ich ein: »und bevor es weitergeht mit einem neuen Abenteuer unserer drei pfiffigen Eichhörnchen im Weltraum, lesen wir erst mal die Hörerpost vor …«
Eine Radiosendung als Gutenachtgeschichte zwischen London und Hamburg. Eichhörnchen sind die Llieblingstiere meines Sohnes – und Star Trek seine Lieblingsserie, also müssen die Geschichten von Joschi, Freddy und Queeky selbstverständlich im All spielen. Es war einer der rabenschwarzen Momente meines Lebens, als mein Sohn nach unserer Schatzsuche sagte: »Ich bin nicht mehr in der Piratenphase!«
Manchmal versuche ich es trotzdem. Dann lasse ich unsere drei putzigen Nager eine Zeitreise machen zu Freibeutern im 17. Jahrhundert. Aber lange sind wir da nie.
Es ist völlig offen, in welche Richtung diese Geschichten gehen. Nach der Begrüßung der Hörer erfinden wir erst ein paar Hörerbriefe. Kritik an der letzten Sendung, Protest gegen die Verlegung der »Space Suirrels« für das Hörspiel »Drei Nasen und ein Furz«. Gaby F. aus Pinneberg wünscht sich eine Zeitreise zu Freibeutern im 17. Jahrhundert. Dann beginnt das neue Abenteuer. Einer von uns beiden beginnt zu erzählen – und nach ein paar Sätzen übernimmt der andere
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