"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
day , wie der Woody-Allen-Film über die große Zeit des Radios heißt. Damals machte das Radio die Samstagabendshows. Mit Moderator, Gästen, Sketchen und Orchester in den prachtvollen Säalen der Radiosender vor großem Publikum aufgeführt – und live im Radio übertragen. Ich versetze mich zurück in diese Zeit – als es nur das Radio gab. Sitze mit einem Tee im Halbdunkel und höre Hörspiele und Features in der BBC. Neulich habe ich eine Heizkörpersinfonie gehört. Ein Künstler hat die Geräusche von Heizungen (englischen Heizungen wohlgemerkt!) aufgezeichnet: Ächzen, Stöhnen, Knacken, Glucksen, Zischen – und daraus Musik gemacht. Und darüber spricht er nun in dieser Sendung auf BBC 4 um 23.05 mit einem Musikwissenschaftler. Man kann sehr schräge Sachen nachts im Radio entdecken, weil viele Sender dann das bringen, was sie dem breiten Tagespublikum lieber nicht zumuten. Schade eigentlich. Oder ich liege im Bett – im Dunkeln – und lausche Konzerten, Reportagen und Hörbüchern. Es ist fantastisch, ein bisschen wie in der Kindheit mit den Hörspielplatten vom Räuber Hotzenplotz und der Schatzinsel. Als ich mitgebibbert habe mit Jim
Hawkins und ein fantastischer Film in meinem Kopf ablief. Und ich weiß noch, wie enttäuscht ich war, als ich ich die Schatzinsel dann im Fernsehen sah. »Radio ist Kino im Kopf – Fernsehen ist Kino im Kasten« – hat mein großes Reportervorbild Carmen Thomas mal gesagt.
Heute abend höre ich Krieg der Welten. Ein Hörspiel von Orson Welles aus dem Jahre 1938. Als die Familien sich abends noch um die Radioapparate versammelten. Es handelt von einer Invasion der Marsmenschen, und Orson Welles hat es als Nachrichtensendung inszeniert. So realistisch, dass Hunderttausende Amerikaner in Panik gerieten und aufs Land flohen. Priester wurden aus dem Bett geklingelt, weil die Leute vor dem Weltuntergang noch beichten wollten … Tanzmusik ertönt, als ich die CD mit der alten Aufnahme starte, der Radiosprecher kündigt einen bunten Abend mit Raymon Racallo und seinem Orchester an. Ich schließe die Augen und entschwebe in ein einsames Farmhaus irgendwo in New Jersey. Vor meinem geistigen Auge sehe ich den Farmer und seine Frau und die drei Kinder nach einem harten Arbeitstag um das Radio sitzen, um einen vergnüglichen Abend mit der Raymon-Racallo-Show zu verbringen. Nach wenigen Minuten meldet sich der Sprecher: »Wir unterbrechen unser Programm für eine Sondermeldung von der Sternwarte in Princeton.« Es folgt ein Interview mit dem Chef der Sternwarte. Professor Pearson hat seltsame Eruptionen auf dem Mars beobachtet und äußert die Vermutung, es könne dort intelligentes Leben geben. Ich stelle mir vor, wie sich die Farmerfamilie ratlos anblickt. Der Sprecher sagt vergnügt: Und nun geht es weiter mit Raymon Racallo und seinem Tanzorchester. Der
hagere Farmer wird mit den Schultern gezuckt, seine Frau mit den Füßen zur Musik gewippt haben – was interessieren sie irgendwelche Explosionen auf dem Mars?
Bei der nächsten Programmunterbrechung ist der Sprecher schon deutlich aufgeregter. Bei Grover’s Mill in New Jersey ist ein Ufo gelandet. Sie haben einen Übertragungswagen und einen Reporter vor Ort. … übergebe jetzt an meinen Kollegen Carl Phillips in Grover’s Mill … Der Reporter ist völlig außer sich. »Ladies and Gentlemen«, hechelt er ins Mikrofon, »diese Kreaturen, ich weiß nicht, was es bedeutet … was das alles bedeutet.« Im Hintergrund auf- und abschwellende Polizeisirenen, wild durcheinanderschreiende Menschen, sphärisches Brummen. Irgendetwas passiert hier … »Ein kleiner Strahl von Licht kommt aus dem Raumschiff. Was ist das? Ein Feuer kommt aus dem seltsamen Objekt.« Die Stimme des Reporters überschlägt sich. »Oh Gott, was ist das?« Man hört die panischen Schreie der Flüchtenden, der Reporter muss schreien, um den grässlichen Lärm zu übertönen. »… der Wald fängt Feuer, die Autos stehen in Flammen, Oh mein Gott, hier …« Stille. Nichts mehr. Mitten im Satz bricht die Verbindung ab. Die Schreie, die unheimlichen Geräusche, die sich überschlagende Reporterstimme. Nur noch statisches Rauschen. Drei, vier, fünf Sekunden lang unendliche Stille. Fünf Sekunden, in denen die Fantasie sich selbst überlassen bleibt. Und dann wieder diese unbeteiligte Stimme des Radiosprechers: »Meine Damen und Herren, die Verbindung zu unserem Reporter Carl Phillips ist leider unterbrochen. Wir bemühen uns, sie wiederherzustellen. Aber
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