"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
ist tipptopp in Ordnung. Ich habe es inzwischen zu einiger Routine im Annähen von Knöpfen gebracht. So wie Oma gebe ich mich an fernsehlosen Abenden ganz meiner Näharbeit hin. Denke nicht darüber nach, was ich denn morgen alles noch tun muss, sondern konzentriere mich voll und ganz darauf, den Hemdenknopf auf einen möglichst perfekten Stiel zu nähen.
Verblüffend ist, wie viel Spaß mir auch die Organisation meines kleinen »Arschtritt«-Projektes macht. Zeitkästchen-Logistik als kreative Herausforderung. Je kleiner die Schritte sind, in die du einen Plan zerlegst, desto größer wird ja der Aufwand. Wenn du nicht nur »Knöpfe annähen« im blauen Haushalts-Kästchen terminierst – sondern als Unterpunkt »Nähzeug kaufen« zusätzlich auf der roten Einkaufslise vermerkst. Aber vermutlich wäre sonst bis heute kein einziger Knopf angenäht, weil ich immer das Nähgarn vergessen hätte für meinen Klarschiff-Termin. Natürlich will man so überorganisiert auf Dauer nicht leben – aber das habe ich auch nicht vor. Im Moment finde ich es ganz beruhigend, dass ich vor lauter winzigen Trippelschritten die große Reise nicht sehe. Ich bin ganz schön stolz auf meine Knöpfe.
Die kleinen Dinge mit Hingabe zu tun: Fotoalben sortieren Knöpfe annähen … Nicht immer daran denken, was ich noch tun muss, sondern mich ganz darauf konzentrieren, einen perfekten Stiel für einen Hemdenknopf zu nähen.
Das Wochenende mit Britta habe ich abgesagt. Berufliche Termine vorgeschoben. Sie hatte sich eigentlich gefreut, mal ein Wochenende ohne mich zu verbringen, weil ich ihr natürlich am Telefon von meiner Aktion erzählt habe. Es ist ein unverfängliches Thema, und sie findet meinen Elan gut. Vielleicht hofft sie, dass ich zu mir komme. Einen Schritt auf sie zugehe. Normalerweise beginnen wir unser Wiedersehen mit einer Flasche Champagner, und beim Abendessen machen wir weiter mit gutem Rotwein zur Feier des Tages. Vielleicht später noch einen Cocktail
in einer Bar. Und am Sonntagvormittag ein oder zwei Pint eiskaltes Bier oder englischen Cider draußen in der Sonne mit all den Hunderten fröhlich lärmenden Engländern auf der Sommerwiese eines Gartenpubs. Den größten Teil unserer Wochenenden verbringen wir zumindest angeheitert. Deshalb habe ich Britta angelogen, dass ich auf Dienstreise nach Dublin muss.
Theoretisch kann man diese »Arschtritt«-Aktion auch als Paar gemeinsam durchziehen, habe ich mir überlegt. Aber wenn du dir dann ohne Glotze und ohne Wein gegenübersitzt, wird das womöglich in jeder Hinsicht ernüchternd. Ich möchte da aber jetzt nicht weiter drüber nachdenken. Über die Konsequenzen, die sich daraus ableiten könnten.
Ich fühle mich verloren. Langweile mich. Sitze im Dunkeln auf dem Sofa, starre regungslos auf den schwarzen Bildschirm und weiß nichts mit mir anzufangen. Es ist beängstigend still. Ein Heizungsrohr knackt, im Nachbarhaus rauscht die Toilettenspülung. Ich fühle mich unendlich einsam und leer. Ich muss an meinen toten Bruder denken. Wir waren uns verdammt nah, aber ich habe in den 13 Jahren nach seinem Tod nicht ein einziges Mal sein Grab besucht. Ich habe mir eingeredet, dass ich das nicht brauche, um zu trauern, aber in Wahrheit konnte ich bis heute nicht loslassen. Ich werde irgendwann auf den Friedhof gehen müssen. Unkontrolliert steigen Tränen in mir auf, steigern sich ins Schluchzen. Die Schleusen haben sich weit geöffnet. Ich gehe zum Kleiderschrank, durchtaste sämtliche Sakkotaschen nach einer möglicherweise vergessenen Zigaretten-Packung. Ich suche nach Kleingeld. »Nein!«, brüllt der Drillsergeant,
»nicht nach fünf Tagen, du bist wohl bescheuert!« Mir liegt ein »Leck mich!« auf der Zunge, aber irgendwie kommt es mir selbst armselig vor, jetzt zum Automaten zu rennen. Nur weil der Abend gerade mal ein bisschen härter wird. Genau das wollte ich doch – und ich wollte es unbetäubt. Ich gehe ins Bett, aber ich kann nicht einschlafen, wälze mich unruhig und erschöpft von einer Seite auf die andere.
Bei meinem Freund Sim war ich auch nie am Grab. Ein einziges Mal habe ich ihn besucht, als er mit Lungenkrebs im Krankenhaus lag. Ich bin immer nur abgehauen. Jedem Konflikt, jedem Problem aus dem Weg gegangen. Habe Menschen hinter mir gelassen und Leinen gekappt, statt die Knoten ordentlich zu lösen. Doch jetzt schleppe ich sie hinter mir her und sie drohen sich in meiner Schiffsschraube zu verheddern. Ich muss schon wieder heulen. Ich bin so verloren,
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