Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Senzel
Vom Netzwerk:
nicht meiner Eigenverantwortung entziehen, aber bemerkenswert ist das schon: Dass da ein begabter, leistungsfähiger junger Mann zehn Jahre lang eine Therapie nach der anderen macht und dabei de facto seine Probleme immer nur verschlimmert. Ihm die Wahrnehmung für die eigene Person und die Interessen anderer immer mehr entgleiten und er sozusagen therapiebegleitet langsam, aber sicher in eine schwere Depression schlittert, die ihn ein halbes Jahr außer Gefecht setzt.
    Man kann nicht alles haben im Leben. Natürlich hätte das meine Oma sagen können. Aber das spricht ja nicht gegen diese Therapeutin – sondern für Oma. Sie hätte auch sagen können: »Da kann ich Ihnen auch nicht helfen, da müssen Sie selbst sehen, wie Sie wieder aus der Scheiße rauskommen.« So etwas will man aber natürlich nicht hören als Patient. Der Patient glaubt daran, dass
die Therapie selbst schon Teil der Lösung ist. Und deshalb sagen Therapeuten so klare, einfache Sätze auch nur ganz selten. Weil sie das ganze Gequatsche ein wenig relativieren. Immerhin ist es einer der wenigen Sätze aus all meinen Therapien, die mir bis heute im Gedächtnis geblieben sind. Man kann nicht alles haben. Dieser Satz holt einen zurück auf den Teppich. Am Ende ist die Wahrheit ganz schlicht: Bescheiß dich nicht selbst!
    Wie alles – eine Frage der Priorität
    Jetzt bin ich hellwach. Habe mich in Rage gegrübelt. 2.58 Uhr. Seit einer Stunde kann ich nicht mehr einschlafen. Man kann nicht alles haben. Ich stehe schon wieder vor diesem Problem. Meine Vertragsverlängerung für London steht an. Und ich stehe im Wort bei meinem Sohn. Ich habe ihm versprochen, nächstes Jahr nach Hamburg zurückzukehren. Damals, als mir zwei Jahre Ausland schon unglaublich lang schienen. Ich könnte die Enttäuschung in den Augen meines Sohnes nicht ertragen. Und zugleich dreht sich mir der Magen um beim Gedanken an endlose Konferenzen und Redaktionsschichten …
    … Ich brauche einen Moment, um das Brummen in den Tiefen meiner Träume dem Wecker zuzuordnen. Vor gefühlten zehn Minuten muss ich eingeschlafen sein. Ich fühle mich wie gerädert und habe den einzigen Wunsch, weiterzuschlafen. Doch ich ziehe das nicht wirklich in Erwägung, sondern koche mir halb wach einen Kräutertee und kleide mich an. Anfangs haben mein innerer Schweinehund und mein Drillsergeant heftige Kämpfe ausgefochten um jede Minute länger im Kuschelbett. Es
ist leichter geworden mit jedem Tag, auch wenn es mir heute genauso graust vor der Schinderei im Fitnessstudio wie ehedem. Es wird mir ewig ein Rätsel bleiben, wie Menschen echte Freude am Sport als solchem finden können. Aber ich freue mich darauf, es hinter mir zu haben. Diesen Moment, wenn ich hellwach, frisch geduscht und fit aus der Tür des YMCA trete. Ich warte eine halbe Stunde auf meine U-Bahn, dann steckt der proppenvolle Zug im Tunnel fest, wird wegen einer technischen Störung zurückbeordert und ich suche im strömenden Regen erfolglos den angekündigten Busersatzdienst.
    »Good morning, my German friend«, begrüßt mich die junge Frau am Empfang des Fitnesscenters lächelnd. »Lausiges Wetter heute, nicht wahr?!«
    »Irgendwann werde ich die U-Bahn in die Luft sprengen«, entgegne ich und sie lacht: »Sagen Sie mir Bescheid, dann helfe ich Ihnen!« Ich bin spät dran heute, in der Umkleide zieht sich Bob schon die Schuhe an, er ist Stammgast hier wie ich. »Du Glücklicher bist schon fertig«, sage ich, aber er winkt ab: »Ich war schon fertig, bevor ich angefangen habe.« Lennie steht vor dem Spiegel und kämmt dünne Haarstränen über seine Stirnglatze. »Gutten Morgäann, Pickelhaube«, krächzt er, weil er das jedes Mal wieder urkomisch findet und sich geradezu ausschütten kann vor Lachen. Lennie ist seit zwei Jahren Witwer und offensichtlich sehr einsam. Er hat mir schon seine Familienfotos gezeigt. Es ist ein bisschen wie in einem Stamm-Pub. Du triffst jeden Morgen dieselben Gesichter, teilst ein Witzchen über die freiwillige Schinderei, während du von der Butterfly-Maschine zur Latissimus-Presse wechselst. Ein paar Sätze über den Beruf,
das Wetter, die Heimat beim Abtrocknen nach der Dusche. Seit ich mal erzählt habe, dass die Deutschen nackt in die gemischte Sauna gehen, ist das immer wieder ein beliebtes Thema. Das hat sie doch sehr schockiert.
    Glück entsteht aus Aufmerksamkeit.
    Ich erlebe plötzlich jeden Tag irgendwelche netten Begebenheiten mit völlig fremden Menschen. Ein freundlicher Plausch an der

Weitere Kostenlose Bücher