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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Senzel
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leidgetan hat. Aber es waren gute Tränen.
     
    Ein Blick in das Antlitz Gottes. Das ist mächtig fett aufgetragen. Peinlich, wenn ich es später noch einmal lese. Wie so vieles in alten Tagebüchern. Dabei könnte ich heute nicht einmal mehr sicher sagen, was stimmt und was gelogen ist. Weil es in gewissen Zeiten meiner Jugend mal en vogue war, der Freundin das Tagebuch zu geben. So als Zeichen des absoluten Vertrauens. Und es natürlich vorher noch eines gewissen Feinschliffes bedurfte. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich tagelang bis tief in die Nacht am Schreibtisch saß und frisierte und schönte und der Realität und meinen Gefühlen eine neue Richtung gab. Das meiste liest sich ohnehin, als habe Franz Kafka einen wirklich sehr üblen Tag gehabt. Weil ich mir vor allem in finsteren Zeiten eine gewisse reinigende Wirkung vom Tagebuch versprach – während ich in glücklichen Momenten wenig Neigung hatte, sie schreibend zu verbringen. Es ist furchtbar öde. Wenn man nicht Josef Stalin, Winston Churchill oder Donald Duck heißt, macht Tagebuchschreiben letztlich keinen Sinn.
    Diese Morgenseiten dagegen schmeiße ich in Kürze weg. Und deshalb muss ich mir auch keinerlei Hemmungen auferlegen. Es geht darum, den Ballast aus dem Hirn zu fegen, den Kopf freizukriegen. Jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen schreibe ich drei Seiten voll. Alles, was mir gerade einfällt, manchmal völlig unstrukturiert. Da kann auch stehen: »Mir fällt nix ein, mein Kopf ist
leer.« Die Idee stammt aus Julia Camerons Buch Der Weg des Künstlers . Ein Programm zur (Wieder-)Belebung der eigenen Kreativität. Ein Ratgeber, den ich wirklich brauchbar und intelligent fand. Im Gegensatz zu all den anderen Büchern, die meine Mutter mir mit dem Hinweis geschickt hat »Das wird dir auch helfen«. Oder die ich mir in der Hoffnung gekauft habe, dass vielleicht doch was dran ist, weil sie sonst ja nicht so unglaublich viele Leute lesen würden. All diese Ratgeber à la »Positive Gedanken verändern die Welt«, die mir weismachen wollen, ich müsste – zack – einfach nur mein Gehirn auf Rosa schalten und schon werde ich glücklich, reich und berühmt.
    Mein Selbstbild prägt die Außenwirkung, na klar! Aber wo sitzt der Schalter, der aus von Versagensängsten und Pessimismus geprägten Zweiflern selbstsichere, mutige Optimisten macht? Ich fühle mich immer auf den Arm genommen, wenn ich so etwas lese, und denke: Ja genau, das stimmt hundertprozentig, Super-Idee …
    … und dann umblättere, weil ich gespannt bin, wie es funktioniert und was ich machen muss. Aber dann ist das Kapitel schon zu Ende.
    »Setzen Sie Ihre Hoffnungen nicht aufs Lottospielen«, rät Simplify your Life, meine Nummer eins auf der persönlichen Ratgeber-Hassliste. »Nehmen Sie sich stattdessen vor, jedes Jahr so viel zu sparen, wie Ihnen ein Fünfer im Lotto einbringen würde.« Und wie soll das gehen? »Wenn Sie jeden Monat 500 Euro sparen, sind das bei einer Verzinsung von 12 Prozent in 20 Jahren eine halbe
Million.« Ernsthaft, das steht genau so da. Ich soll mir kreative Freiräume verschaffen, indem ich banale Tätigkeiten delegiere, rät mir der Autor. Einen Fahrer zu engagieren sei auch für Normalverdiener durchaus vernünftig. So wie er davon abrät, in einem ungeliebten Beruf zu verharren, der meine Fähigkeiten nicht zur Geltung bringt: »Haben Sie Mut zur Veränderung, auch in höherem Alter. Der Arbeitsmarkt wird immer dynamischer. Es wächst die Zahl der Seniorenfirmen, gegründet von ausgestiegenen 50- und 60-Jährigen, die bevorzugt ihre eigene Altersschicht einstellen.«
     
    Kurz nach meinem 40. wollte ich auch alles hinschmeißen. Aus dem goldenen Käfig der Festanstellung ausbrechen. Ich fühlte mich ausgebremst, gelangweilt, nicht gewürdigt. Ich war überzeugt, meine Fähigkeiten würden anderswo mehr geschätzt, und streckte meine Fühler aus. Ich bekam ein Angebot als stellvertretender Chefredakteur der Neuen Revue – weil der Verlag den Ehrgeiz hatte, das Blatt politischer auszurichten (so in die Richtung der früheren Illustrierten Quick ). Es war wie im Film. Dieser Typ mit Schnauzbart und Weste, goldenes Dupont-Feuerzeug, fixiert mich durch den Rauch seiner Filterlosen und sagt dann voller Pathos: »Ich biete Ihnen hier den größten Challenge Ihres Journalistenlebens!« Natürlich kann man nicht für einen Betrieb arbeiten, für den man sich schämen muss. »Und – was machst du so?« – »Och – ich bin Politikchef bei so einer

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