"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Illustrierten …« Neue Revue – auf was für Ideen man kommen kann. Tatsächlich war ich einen Moment lang in Versuchung. Schlicht und ergreifend, um mir zu beweisen,
dass ich den Mut habe, etwas komplett Neues anzufangen. Und vielleicht auch, weil es so skurril war, so absolut jenseits dessen, was ich je in meinem Leben getan hatte. Bliebe noch zu erwähnen, dass die Neue Revue kurze Zeit später vom Markt verschwand.
Wenn du am Ende bist, solltest du nicht über radikale Veränderungen nachdenken, weil dich genau das in diesem Moment völlig überfordert. Kümmere dich dann erst einmal darum, dass du deinen Alltag wieder einigermaßen auf die Reihe kriegst und klar siehst.
Wenn du am Ende bist, solltest du nicht über radikale Veränderungen nachdenken, weil dich genau das in diesem Moment völlig überfordert. Kümmere dich dann erst einmal darum, dass du deinen Alltag wieder einigermaßen auf die Reihe kriegst und klar siehst. Genau das tue ich jetzt: mein Leben in den Griff kriegen. Aber war ich denn schon wieder am Ende? Ich sehe diesen trübsinnigen, selbstmitleidigen Typen an seinem 47. Geburtstag mit zwei Flaschen Sekt auf seinem Balkon. Ich versuche mich an die Angst und Resignation und Niedergeschlagenheit, die seelische und körperliche Erschöpfung zu erinnern. Aber obwohl es nicht mal vier Wochen her ist, kann ich keine Empfindungen zu den Bildern abrufen – jetzt, aus diesem totalen Wohlbefinden heraus. Ich weiß nicht, wann es mir das letzte Mal so gut ging. Ich bin sehr stolz auf die Disziplin, mit der ich mein Leben organisiere. Um sechs im Fitnessstudio. Der kleine Sieg jeden Morgen gegen die innere Trägheit, die fester werdenden Muskeln, die Klarheit und Stärke,
die straffere Haltung, es ist erstaunlich, in welche Euphorie es mich versetzt, wie zufrieden es mich macht, mein Leben zu ordnen. Job, Haushalt, kochen, lesen, Hemden bügeln, perfekte Knopfstiele nähen. Und wie viel Energie und Tatendrang ich trotz des straffen Programms immer noch habe. Meine Oma hat immer gesagt: »Wenn du willst, dass etwas erledigt wird, frag einen, der viel zu tun hat. Keinen, der viel Zeit hat.« Der eine hat’s im Griff, der andere kriegt’s nicht auf die Reihe. Ich kenne beide Seiten und kann gut nachempfinden wie es einem Langzeitarbeitslosen geht. Je länger du in lähmender Trägheit verharrst, desto schwerer kommst du da wieder raus. Selbst die kleinste Anstrengung überfordert dich. Nur dass diese Passivität in meinem Fall von innen kam.
Der Durchhänger rund um meinen 47. fällt jetzt nicht mehr ins Gewicht. So etwas kommt vor, das muss man nicht überbewerten. Depression erscheint mir doch inzwischen arg übertrieben. Ich will nicht, dass es eine Depression war. Ich will, dass das ein für alle Mal hinter mir liegt. Nie wieder will ich in dieses tiefe schwarze Loch hineinfallen und nie wieder diese entsetzliche Leere in mir erleben. Man fällt da auch nicht rein. Man gräbt sich quälend langsam dem Tiefpunkt entgegen. Diesmal habe ich das Ruder herumgerissen. Aber es war haarscharf. Ich hatte mein Leben längst nicht mehr im Griff. Ich hatte einfach nur großes Glück, dass es nicht zu irgendeiner folgenschweren Panne kam, die mich noch weiter aus der Bahn geworfen hätte. So war das vor sechs Jahren. Stück für Stück krachte mein Leben zusammen – und ich schaute mit tieftrauriger, fassungsloser Resignation zu und konnte nichts dagegen tun. Jeder weitere umstürzende
Dominostein verstärkte die Panik – aber auch die lähmende Passivität. Als würde das Blut in meinem Körper nach und nach durch Blei ersetzt.
Ich habe Angst, dass die Depression in mir steckt wie eine chronische Krankheit. Ich darf mich nicht niederdrücken lassen von der Schwermut. Muss die Handlungshoheit über mein Leben behalten, das ist das Wichtigste. Denn jeder noch so kleine Erfolg wiederlegt das Gefühl völligen Ausgeliefertseins. Momentan ist das weit weg. Ich bin in einer geradezu heiteren Grundstimmung. Betrachte mein chaotisches Leben mit all den vermeintlich verpassten Chancen milder als je zuvor. Weil ich sehe, dass ich auch eine Menge richtig gemacht habe.
Nie wieder will ich in dieses tiefe schwarze Loch hineinfallen und nie wieder diese entsetzliche Leere in mir erleben. Aber offenbar kann ich jetzt rechtzeitig »Stopp« sagen, wenn mich die Schwermut anfällt.
Vor allem, dass ich nicht bei jedem Frust die Brocken hingeschmissen und auch mal üble und langweilige Zeiten überstanden und die Zähne
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