"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
zusammengebissen habe. Herrje – ich wollte schon so vieles … Aussteigen. Um die Welt segeln. In die Entwicklungshilfe gehen, Menschen helfen – statt immer nur darüber berichten, was andere Menschen erleben. Das zog sich durch mein Leben, diese generelle Unzufriedenheit mit dem, was ich tue. Aber womöglich liegt das ja in der Natur der Sache. Weil das Leben fast immer anders läuft, als man sich das als junger Mensch vorgestellt hat.
Journalist wollte ich werden, nachdem ich den Film
über die Watergate-Affäre gesehen habe. Robert Redford und Dustin Hoffmann als Washington-Post-Reporter, die den amerikanischen Präsidenten stürzen. Missstände aufdecken, den Mächtigen auf die Finger schauen, die Welt ein Stück besser machen. Und je älter du wirst, desto öfter und selbstkritischer stellst du dir die Frage: Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Und dann fängst du an zu hadern oder wirst bitter und zynisch. Weil das Leben banaler und du selbst durchschnittlicher bist, als du dir das mit 20 vorgestellt hast. Als das Leben noch endlos und die Möglichkeiten grenzenlos schienen. Was schon damals nicht stimmte. Du kannst nicht alles schaffen, was du willst. Du machst dich höchstens unglücklich, wenn du das glaubst.
Manchmal ist es besser, Träume loszulassen – als jahrelang mit der eigenen Feigheit, Unfähigkeit oder den bösen Umständen zu hadern, die dich daran hindern, Grenzen niederzureißen. Oft übersiehst du dabei die Möglichkeiten, die sich innerhalb dieser Grenzen bieten. Und tust stattdessen gar nichts. Du hast ja den großen, gescheiterten Traum als Ausrede. Veränderungen beginnen nicht mit der Kündigung oder der Scheidung. Sondern vielleicht mit einer Diät, einem neuen Anzug oder regelmäßigem Frühstück und langen Waldspaziergängen. Es wird nie alles so sein wie man es gerne hätte. Wie meine Oma sagte: »Auf der anderen Seite des Zaunes ist das Gras grüner.«
Man kann nicht alles haben im Leben
»Herr Senzel, man kann nicht alles haben im Leben«, sagte meine Therapeutin eines Tages. Ich war darüber
empört und bestürzt, weil das auch meine Oma hätte sagen können. 20 Sitzungen lang hatten wir meine Seele umgegraben und Verletzungen betrachtet und uns behutsam meinen Bedürfnissen genähert. Und jetzt speiste sie mich ab mit solchen Binsenweisheiten. Dabei saß ich wirklich in der Klemme und brauchte Rat. Meine Affäre war aufgeflogen, und ich musste mich entscheiden zwischen fester Freundin und Geliebter. Auf die Idee, dass keine von beiden die Richtige war, wäre ich damals nicht gekommen. Ich blieb beim Bewährten und fühlte mich fortan beobachtet und schuldig. Ein halbes Jahr später habe ich sie wegen einer anderen verlassen. Um unbelastet neu anzufangen. Diesmal wird alles anders. Keine Lügen mehr, keine Heimlichkeiten. Da lachen ja die Hühner.
Es ist ein Selbstwertproblem, habe ich in der Therapie gelernt. Ich zweifele so sehr an mir, dass ich mir nicht vorstellen kann, um meiner selbst willen geliebt zu werden. Was sich dann ja auch jedes Mal bestätigte, wenn meine Freundin herausbekam, was für ein »verlogenes Arschloch« ich in Wahrheit war. Das nennt man dann kontraphobisch: Du betrittst einen Raum voller fremder Menschen, überzeugt davon, dass dich keiner mag, und begrüßt sie mit »Na, ihr Arschlöcher!«. Und ihre Reaktion bestätigt dich: Hab ich doch gleich gewusst! Aber ich bin gar kein Idiot – ich bin kontraphobisch. Ich war ein Musterpatient in jeder Therapie. Ich habe nicht nur begriffen, sondern geradezu verinnerlicht, was ich da Woche für Woche über mich selbst lernte. Und erzählte dann abends einer neuen Eroberung von meiner Therapie. Ein Mann, der sich selbst hinterfragt, so etwas mögen
viele Frauen. Einen, der wahrhaftig ist und nicht vor sich selbst wegläuft. Theoretisch jedenfalls.
Natürlich ist jeder Therapeut machtlos, wenn der Patient ihn belügt. In erster Linie bin ich dann auch wütend auf mich, weil ich das Gefühl habe, zehn Jahre meines Lebens sinnlos verquatscht zu haben. Mich selbst beschissen, mir etwas vorgemacht zu haben. Nämlich dass ich an mir arbeite, mich meinen Problemen stelle. Das habe ich wirklich geglaubt.
Erstaunlich finde ich, dass es auch meine Therapeuten geglaubt haben, dass sie mir meine wöchentlichen Selbstinszenierungen durchgehen ließen. Ich dachte immer, Psychologen seien geschult darin, zwischen den Zeilen zu lesen. Durch die richtigen Fragen der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Ich will mich
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