"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
fort. Und treibt er ihn auch tausend Mal aus seiner Haut, er findet eine neue, die’s büßen muss.«
(Wilhelm Busch)
Wie passt das Kind in meinem Herzen zu diesem mittelalten Gesicht im Spiegel? Das Leben hat seine Spuren unübersehbar eingegraben. Aber erwachsen? Auf uralten Schwarz-Weiß-Fotos fällt mir immer wieder auf, wie erwachsen
früher schon junge Männer mit Mitte 20 aussahen. Markante, reife Männergesichter – keine Jungs. Du kannst dich heute als Mann sehr lange vor dem Erwachsenwerden drücken. Du kannst als Mann auch mit 50 noch durch Bars tingeln, mit Kumpeln saufen, Affären und ungeklärte Beziehungen haben. Hagestolz nannte man solche Männer früher wohl. Ich bin 47, das verblüfft mich irgendwie. Als mein Vater 47 Jahre alt war, war er für mich ein alter Mann. Und was bin ich? Ich schau die hübschen jungen Frauen in der U-Bahn an, von denen keine irgendeine Notiz von mir nehmen wird. Höchstens denkt sie: Was glotzt mich dieser alte Sack so an? Ich sollte der Wahrheit ins ungeschminkte Gesicht sehen: Ich bin ein Mann an der Schwelle zum Alter. Mit einer furchtsamen Kinderseele. Und deshalb musste immer eine Frau da sein – wie Mutti. Wie sagt Brad Pitt als Tyler Durdan in dem Film Fight Club doch so schön: »Wir sind die Generation Männer, die von Frauen erzogen wurden. Glaubst du, eine weitere Frau würde das Problem lösen?! « Es wird Zeit, dass ich endlich mal aufhöre, wie ein aufgescheuchtes Huhn durchs Leben zu flattern.
Tag 26 – Stille ist nicht Leere
Im Büro läuft den ganzen Tag der Nachrichtenkanal der BBC. Der Ton ist Ton leise gestellt, das Hintergrundgeräusch meines Arbeitstages. Aber wenn dieser rote Balken blinkt, bin ich sofort alarmiert: Breaking News! Eilmeldung! ANTITERROREINSATZ IN NORDLONDON. Weiße Balkenschrift auf Signalrot. Ein Reporter vor einem gelben Polizeiabsperrband, hinter ihm ein Haus, Uniformierte gehen ein und aus. Durchsuchung
im Rahmen der Antiterrorgesetze. Mehr weiß der hektische Reporter auch nicht. Der Kamerazoom fährt in die Totale, Blaulichter, Gewusel, Nachbarn werden befragt, es ist ihnen nie etwas Besonderes aufgefallen, alles ganz normal. Schaltung ins Regierungsviertel, ein anderer Reporter vor der berühmten schwarzen Tür von Downing Street Nummer 10. Der Premierminister habe sich bislang nicht zu den Durchsuchungen geäußert. Auch der Innenminister nicht. Der dritte Reporter vor der Glasfassade von New Scotland Yard – auch hier sagt keiner etwas. Meine Redakteure in Hamburg und Köln wollen wissen, was da los ist und ob und wann ich einen Bericht anbiete. Da werden Häuser durchsucht, mehr weiß ich nicht. Seit den Anschlägen auf Bus und U-Bahnen gibt es viele solche Aktionen, oft ist nichts dran, alle sind nervös. Wir sollten abwarten.
Aber dann steht es als Aufmacher bei Spiegel-Online. Die wissen auch nicht mehr, aber haben einen Terror-experten interviewt, der neue Anschläge für sehr wahrscheinlich hält. Nicht nur in London, sondern in ganz Europa. Auch in Berlin. Die Deutsche Presseagentur füttert die mageren Informationen mit einer Bilanz der Terroranschläge seit dem 11. September an. Höchste Zeit für mich, endlich in die Hufe zu kommen und den Terrorexperten meines Vertrauens um Einschätzung zu bitten. Ein ganz neues Berufsbild hat Al Kaida da in den Medien geschaffen. Natürlich weiß er auch nichts über die Polizeiaktion in Nordlondon. Grundsätzlich könne man aber durchaus von einer realistischen Terrorbedrohung im Lande ausgehen. So kurz sagt er das natürlich nicht. Ich hoffe, dass es bald mehr Informationen gibt, und stelle mich auf einen
arbeitsreichen nächsten Morgen ein. Aber heute ist das Thema aus den Nachrichten komplett verschwunden. Die Verdachtsmomente haben sich nicht erhärtet. Man hat ein paar Flugblätter gefunden, es gab jedoch keine Festnahmen. Die Redaktionen zu Hause winken ab: Wen soll das denn interessieren? Es ist ja nichts passiert …
In meiner Wohnung bleibt die Glotze kalt. Dafür erwartet mich ein neues Hörspiel. Heinrich Böll ist auf dem Cover. Er hält eine Zigarette in der Hand und schaut nach links auf einen Punkt außerhalb des Fotos. Dr. Murkes gesammeltes Schweigen . Voller Vorfreude nehme ich die Hörspiel-CD aus der Hülle, dimme das Licht im Wohnzimmer und mache es mir im Sessel gegenüber der Stereoanlage bequem. Die sonore Stimme des Erzählers trägt meine Fantasie in einen Radiosender. Im Lautsprecher knarrt und rumpelt es, als der Kulturredakteur Dr.
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