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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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und in bunten Lampions, in Laternen und Bildprojektoren aus reflektierenden Materia lien, in Kugeln, die an langen Leinen schwebten, viele von ihnen bei Luftschiffen und kleineren Flugbooten, die für die Nacht an Luftankern festgemacht hatten, ihre Flugtanks voller Helium. Überall gab es Spiegel in allen Formen und Größen, und sie multiplizierten die Anzahl der Feuer und Flammen, füllten die ganze Schlucht mit ihrem flackernden Schein und warfen ein kaleidoskopartiges Wechselspiel von Licht und Schatten an die hohen Felswände. Dass es in einer Stadt, deren Gebäude nicht aus Synthmetall oder Polymeren bestanden, so viele offene Feuer gab, sogar in der Nähe von Luftschiffen, wunderte Rahil, doch dann erinnerte er sich an Hinweise, mit denen er sich vor Monaten beschäftigt und die er dann in den Speichern der zerebralen Schaltkreise seiner damaligen Rüstung abgelegt hatte. Das Feuer hatte sakral-rituelle Bedeutung für die Vogelmenschen von Heraklon, und es brannte überall dort, wo es nicht einmal dann gefährlich werden konnte, wenn starker Wind aufkam, was in den Schluchten und Tälern selten genug geschah. Die Hütten der Nester bestanden aus einem sehr leichten, gips artigen Material, das nur dann Schwelbrände entwickeln konnte, wenn es mehrere Minuten lang Temperaturen von über zweihundert Grad ausgesetzt war.
    In diesem Durcheinander aus sich ständig verändernden hellen und dunklen Mustern flogen Tausende von Vogelmenschen. Sie sprangen von Stegen, schmalen Hängebrücken und Dächern, fielen zwischen Seilen und Tauen, die die einzelnen Nester miteinander verbanden, breiteten ihre ledrigen Flügel aus, orientierten sich mit brummenden und zwitschernden Lauten, stiegen anderenorts wieder auf und ließen sich auf Stangen nieder, die wie Dornen und Stacheln aus den Gebäudegruppen ragten.
    »Kommt den Spiegeln nicht zu nahe«, sagte Sammaccan. »Sie dienen den Nationen der Täler und Schluchten als Wegweiser.«
    Als sie die steile Treppe hinabgingen, ihre ungleichmäßig geformten Stufen aus dem Fels der Schluchtwand gehauen, blickte Rahil an den Nestern der Vogelmenschen vorbei in die Tiefe. Das reflektierte Licht reichte gerade noch bis zu einem Fluss hinab, der zweitausend Meter unter ihnen ein silbernes Band bildete. Zwei Schiffe waren darauf unterwegs, lange Schatten auf dem Silber, das sie nach Westen trug. Im Norden öffneten sich die Felswände an mehreren Stellen, und dort sammelte sich die Dunkelheit der Nacht: Öffnungen weiterer Täler und Schluchten, untereinander manchmal durch Tunnel verbunden. Einige Wasserfälle reichten dort wie kleine weiße Bänder in die Tiefe, so weit entfernt, dass ihr Donnern und Rauschen nicht mehr war als ein Flüstern, das sich in den Geräuschen der Stadt verlor.
    Die Treppe endete auf einer kleinen Plattform, und von dort aus ging es über eine aus knirschendem Holz bestehende Brücke, die unter ihrem Gewicht erbebte. Nach einigen Dutzend Metern nahm sie ein Labyrinth aus Hängebrücken, Stegen, von Seilen gehaltenen Treppen und den ineinander verschachtelten Gebäuden erster Nester auf. Rahil musste immer wieder den Kopf einziehen, um nicht gegen straff gespannte Taue, reflektierende Bögen, Feuerschalen und die Kanten von Plattformen zu stoßen, die für ihn nur mühsam zu erklettern gewesen wären. Dass es die Vogelmenschen schafften, in diesem Chaos zu navigieren, noch dazu mit verblüffender Eleganz, grenzte an ein Wunder. Zum Glück begegneten sie auf ihrem Weg durch die Stadt kaum jemandem, denn weitaus die meisten Geflügelten waren durch die Luft von Nest zu Nest unterwegs oder kreisten in Gruppen in den Konvektionsströmen, die von besonders großen Feuern geschaffen wurden.
    Sammaccan ging noch immer voraus, als wüsste er den Weg, und sie mieden die Nähe der Spiegel, die manchmal gewölbt waren, als sollten sie Licht und Ton in bestimmte Richtungen lenken. Bei einer breiten Strickleiter, die fast wie ein Fangnetz wirkte, trafen sie auf einen Spiegel, der nicht nur den flackernden Schein der drei darüber in Schalen brennenden Feuer ein fing, sondern auch Bilder anderer Spiegel, die er seinerseits reflektierte, und in einem davon glaubte Rahil eine Gruppe zu erkennen, die irgendwo unter ihnen unterwegs war: Menschen ohne Flügel, die Gesichter nicht ledrig, sondern glatt und bleich. Einer von ihnen trug eine Uniform, die anderen zivile Kleidung mit glänzenden Abzeichen an Schultern und Kragen. Er sah in die Tiefe, in das Gewirr aus Seilen,

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