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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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übersetzte.
    »Ägide«, erwiderte die eine Gestalt, und von der anderen kam ein leises Knurren, auf das der Interpreter nicht reagierte.
    Die beiden Vogelmenschen waren klein – sie reichten Rahil kaum bis zur Brust – und sehr schmächtig, mit langen, dünnen Gliedmaßen und einem ledrigen, aus schmalen Schultern ragendem Hals. Die Augen in den ebenfalls ledrig wirkenden Gesichtern waren überraschend klein, die Nase kaum mehr als eine Andeutung und der Mund lippenlos. Große Ohren neigten sich nach vorn und blieben ständig in Bewegung. Rahil erinnerte sich an noch etwas anderes: Die Vogelmenschen von Heraklon konnten zwar sehen, orientierten sich aber vor allem mithilfe von akustischen Signalen.
    »Wir möchten nach Lautaret«, sagte er.
    »Warum möchtet ihr nach Lautaret?«, fragte der eine Vogelmensch sofort, und der andere fügte hinzu: »Was wollt ihr dort? Was will die Ägide in Lautaret?«
    Warum lügen, wenn die Wahrheit genügt und sogar hilfreich sein könnte?, dachte Rahil. »Wir möchten jemanden besuchen«, sagte er. »Den Verwahrer Äguizabel.«
    »Besuchen«, wiederholte der eine Geflügelte, breitete kurz die Schwingen aus und faltete sie dann wieder zusammen. »Äguizabel, Äguizabel«, sang der andere.
    Die Sprechweise der Vogelmenschen weckte unangenehme Erinnerungen in Rahil, an zwei Kzosek-Frauen, die Zickigen Zwillinge.
    »Frag sie, ob die Nester noch geöffnet sind, Junge«, flüsterte Coltan, der ganz nahe an Rahil herangetreten war.
    »Geöffnet sind sie noch, geöffnet«, antworteten die beiden Vogelmenschen wie aus einem Mund, als Rahil die Frage gestellt hatte. »Was bringt ihr dem Verwahrer mit? Was bringt ihr mit?«
    »Neugieriges Pack«, sagte Coltan so leise, dass der Interpreter seine Worte nicht übersetzte. »Sag ihnen, das geht sie einen Dreck an. Sie sollen uns vorbeilassen. Immerhin sind wir die Ägide, mein Sohn, und der Ägide gebührt Respekt, nicht wahr?«
    »Es sind keine Dinge, die wir bringen, sondern wichtige Informationen«, erwiderte Sammaccan.
    Er hatte seine Kleidung verändert und sich den Anschein gegeben, einen langen, dünnen Mantel zu tragen, mit einer Kapuze, die ihm tief in die Stirn reichte. Dadurch blieb sein flaches Gesicht größtenteils im Schatten, zumal er den Kopf so hielt, dass ihn das Licht der wie ein Mond über den Himmel ziehenden Polis nicht erreichte. Aber die beiden Vogelmenschen verließen sich ohnehin nicht so sehr auf ihre Augen, sondern eher auf die Ohren, und der mit der Waffe zirpte und neigte den Kopf zur Seite.
    Welche Echos er auch empfing: Offenbar verrieten sie ihm nicht, dass jemand aus Munraha vor ihm stand.
    »Worte, Worte«, säuselte er. »Die Ägide hat nichts als schöne Worte.«
    »Nichts als schöne Worte«, bestätigte die zweite kleine Gestalt. Die Flügel der beiden Vogelmenschen knarrten und knisterten, als sie beiseitetraten und den Weg zur Treppe freigaben.
    Sammaccan ging sofort los, und Rahil blieb dicht hinter ihm. Nach einigen Metern, von hohen Felsen umschlossen, hörte Rahil die gedämpfte Stimme seines Vaters hinter sich. »Hat keinen guten Ruf mehr auf Heraklon, die Ägide.«
    »Du und die anderen, ihr habt kräftig dabei mitgeholfen, ihn zu ruinieren. Wir haben den Frieden gebracht; ihr bringt den Krieg zurück.«
    »Und wenn es der letzte ist, mein Sohn? Was wäre, wenn es sich lohnt, um das Artefakt zu kämpfen? Die Ägide und die Hohen Mächte, sie wollen es für sich. Sie wollen uns um die Superschmiede betrügen, die aus der Zukunft zu uns kam. Weil wir mit ihr ihnen ebenbürtig werden könnten.«
    »Unsinn«, zischte Rahil, und dann öffnete sich die Schlucht vor ihnen, mehr als zwei Kilometer tief, und in ihr eine glitzernde, funkelnde Stadt.
    40
    Es gab Elektrizität in Lautaret, aber die gleichmäßig leuchtenden Lampen, eine von ihnen an einem Pfahl neben der steil in die Tiefe führenden Treppe, waren weit in der Minderzahl. Der größte Teil des Lichts stammte von Fackeln und offenen Feuern, die überall brannten: auf Felsvorsprüngen und dort, wo Werkzeuge kleine Nischen in den Felswänden geschaffen hatten; in Halbkugeln aus Blech, die an Seilen zu beiden Seiten schwankender Stege hingen; auf den Dächern von Nestern, die aus Dutzenden von wie aufs Geratewohl zusammengefügt wirkenden Gebäuden bestanden; auf dünnen, kannelierten Säulen und über den mit silberner, reflektierender Farbe bemalten Torbögen zwischen Hüttenclustern. Hinzu kamen Myriaden von kleinen Flammen, hinter Fenstern

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