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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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Sicherheit bewegte sie sich zwischen den mehrere Meter hohen hauchdünnen Spiegeln, als wüsste sie genau zwischen Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden, zwischen Reflexionen und freien Passagen. »Er hat Freunde bei den Hohen Mächten, und sie gaben ihm die Technik, die notwendig war, um unsere Gene zu manipulieren. Weißt du noch, wie selten uns unsere Mutter umarmte, als wir klein waren? Und später, als wir größer wurden, hielt sie sich immer mehr von uns fern und wurde zu einer Fremden.«
    »Ich bin hier groß geworden«, sagte die kahlköpfige Frau mit den Narben und klang verträumt. »Weißt du das denn nicht, du dummer Junge? Wie oft habe ich es dir gesagt? Tausendmal! Ich bin hier aufgewachsen, in diesen grauen Fluren, Zimmern und Sälen, und niemand hat mit mir gesprochen, niemand, den ich anfassen kann. Nur die Stimmen waren da und flüsterten, und sie flüstern noch immer, aber ich verstehe kein einziges Wort.«
    Das war ein weiterer Hinweis, den sich Rahil merkte.
    »Es war ein Langzeitplan, wie die Pläne der Segler«, sagte er, als sie die Wanderung durch den Spiegelsaal fortsetzten, vorbei an Zerrbildern ihrer selbst. »Und jemand von den Hohen Mächten half den Patronen der Tennerits dabei.«
    »Wer sind diese Hohen Mächte, von denen du da redest?«
    Das war eine von Jazmines Erinnerungslücken. Es gab noch viele andere, und jede von ihnen schmerzte Rahil. »Mächtige Wesen«, sagte er. »Mächtiger als wir.«
    »Mächtiger als die Stimmen?«
    Rahil beschloss, die Gelegenheit zu nutzen. »Wer sind die Stimmen?«
    »Dummer Junge, dummer Junge!«, rief Jazmine, und die dünnen Spiegel in ihrer Nähe vibrierten und klirrten. »Du weißt doch, dass du mich nicht nach den Stimmen fragen sollst! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst mich nicht nach den Stimmen fragen? Tausendmal!«
    Aber diesmal ließ Rahil nicht locker. Dies war wichtig. »Was tun sie? Wovon flüstern sie?«
    »Woher soll ich wissen, wovon sie flüstern? Ich verstehe sie doch nicht! Und was sie tun …« Jazmine betrachtete ihre Hände und drehte sie. »Manchmal geben sie mir Dinge, die ich haben möchte. Manchmal öffnen sie für mich Türen, die bisher verschlossen geblieben sind.«
    »Aber nicht die große am Ende des Flurs mit den leeren Bildern?«
    »Nein, die nicht. Ich habe die Stimmen mehrmals dazu aufgefordert, aber sie hören nicht auf mich.«
    Rahil sah in einen Spiegel, der ihm sein Gesicht als verzerrte Fratze zeigte, und für einen Moment fragte er sich, ob ihm der Spiegel seine eigene, tatsächliche Realität präsentierte.
    »Unsere Mutter, Vivienne Guandique … Je größer wir wurden, desto mehr hielt sie sich von uns fern. Vielleicht ließ Vater unsere Gene verändern, während wir in ihrem Bauch wuchsen. Vielleicht fürchtete sie uns. Oder es war keine Furcht, sondern Abscheu. Sie muss uns immer für etwas Fremdes gehalten haben, für etwas, das in ihrem Leib gewachsen war, aber eigentlich nicht von ihr stammte.«
    »Ich bin in einem Uterus gewachsen«, sagte Jazmine, und dabei klang sie so traurig, dass Rahil voller Mitgefühl zu ihr ging. »Ich habe nie eine Mutter gehabt.«
    »Wir wurden als Werkzeuge geplant und erschaffen«, sagte Rahil und richtete die Worte nicht nur an Jazmine, sondern auch an sich selbst. Einige Dinge wurden klarer, als er sprach. »Wir sollten hierhergebracht werden, um unserem Vater die Kontrolle über die Superschmiede zu ermöglichen. Aber dann verließen wir Caina und …«
    »Du hast mich gezwungen. Ich erinnere mich, obwohl es nicht meine eigenen Erinnerungen sind. Du hast mich gezwungen.«
    Das Stechen kehrte in Rahils Brust zurück. »Ich habe dich überredet, nicht gezwungen«, erwiderte er.
    »Du hast mir keine Wahl gelassen!«, rief die Frau, zu der Jazmine im Artefakt geworden war. »Es ist deine Schuld, dass die andere Jazmine gestorben ist und ich unvollständig bin.«
    »Es ist nicht meine Schuld, aber letztendlich meine Verantwortung«, sagte Rahil leise. Dem Stechen in der Brust gesellten sich Kopfschmerzen hinzu, und er rieb sich die Schläfen. »Allein hätte es unser Vater nicht schaffen können. Von seinem Helfer bei den Hohen Mächten bekam er eine biologische Schmiede und andere technische Hilfsmittel. Es stellt sich die Frage, wer jener Helfer ist und was er will.«
    Seine Finger verharrten an den Schläfen, als er, für ein oder zwei Sekunden, ein Knistern hörte, und dahinter zahlreiche Stimmen, wie das Murmeln im Zuschauersaal eines Theaters kurz vor der

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