Artefakt
absprengte und in sich zusammenfiel? Millionen von Jahren. Eine Ewigkeit für die Menschen, auch für die Aun von den Sieben Völkern, und doch kaum mehr als ein Wimpernschlag für die Hohen Mächte, ein Tropfen im Meer ihrer Zeit.
»Es tut mir leid«, schniefte Lucrezia leise.
»Was tut dir leid?«, erwiderte Rahil, beobachtete Kedra und dachte an den Tod von Planeten und Sonnen.
»Dass ich nicht mehr die bin, an die du dich erinnerst.«
Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und wischte mit den Daumen die Tränen fort. »Das Leben ist eine Reise«, sagte er. »Eine Reise, die uns immerzu verändert.«
»Du hast dich nicht verändert. Du bist so jung wie damals.«
Ich bin nicht mehr der Rahil, den du kennst, dachte er. Ich bin gestorben. Aber er sagte: »Unsere Erinnerungen bleiben. Für mich bist du immer die Lucrezia von damals.« Er zögerte kurz und fügte dann hinzu: »Aber es ist nicht fair.«
»Was ist nicht fair, Rahil?«
»Dass du sterben musst. Dass wir alle sterben müssen, wenn wir aufhören, als Missionare für die Ägide zu arbeiten.«
»Vielleicht ändert sich das bald. Wenn uns die Hohen Mächte den Status von Sekundären verleihen.«
Heraklon, dachte Rahil. Die Entscheidung fällt auf Heraklon, vielleicht schon in wenigen Wochen. Und ich liege hier im Bett – neben einer Frau, die in einigen Jahren sterben wird, weil sie den Tod gewählt hat – und denke über den Tod von Sternen nach.
»Sie könnten uns das Leben geben, uns allen«, sagte er, während sich das Bett drehte und die Wand mit den gewaltigen Wasserfällen in sein Blickfeld geriet. »Sie könnten uns die Mittel geben, mit denen wir in der Lage wären, alle unsere Probleme zu lösen. Stattdessen beobachten sie, wie wir uns plagen und abrackern. Und wie wir sterben.«
»Wir könnten den Gefallenen Welten die Mittel geben, die sie brauchen, um ihre Probleme zu lösen«, murmelte Lucrezia. »Aber wir tun es nicht.«
»Ich würde es tun«, sagte Rahil. »Wenn ich das Kuratorium wäre, wenn ich entscheiden könnte … Ich würde den Gefallenen Welten die Technik der Ägide geben.«
»Bist du sicher?«
»Ja.« Aber warum habe ich dann Sammaccans Anliegen zurückgewiesen?, dachte Rahil. Warum habe ich es abgelehnt, ihm Waffen zu geben, oder eine Schmiede, mit der er alles herstellen kann, was er braucht?
»Möchtest du das Lied hören?«
»Können wir es hören, hier?«, fragte er hoffnungsvoll und mit plötzlicher Sehnsucht.
»Ich bin die Verwalterin des Depots.« Lucrezia lächelte im Halbdunkel. »Ich habe mir bei der Ausstattung meines Quartiers die eine oder andere Freiheit genommen.« Etwas lauter sagte sie: »Wir möchten das Konzert hören.«
Das Rauschen der Wasserfälle und das Fauchen des Windes, der über die Dünen der endlosen Wüste hinwegstrich, wichen einem vertrauten melodischen Summen, und Rahil fühlte sofort, wie die Anspannung von ihm abfiel. Er glaubte, einzutauchen in den Strom aus Tönen, die umso komplexer waren, je mehr man sich auf sie konzentrierte. Mithilfe der Femtomaschinen sensibilisierte er das Gehör und fügte seiner Wahrnehmung eine synästhetische Komponente hinzu, die ihm das Gefühl gab, die Töne nicht nur zu hören, sondern auch zu schmecken, zu riechen und in vielen unterschiedlichen Farben zu sehen. Er rückte näher an Lucrezia heran, spürte ihre Körperwärme und legte den Arm um die Frau, die einst so schön gewesen war. So lagen sie nebeneinander, auf dem schwebenden, sich drehenden Bett, in einem Zimmer wie das Innere eines Geschichten erzählenden Würfels, der ihnen jetzt das Lied der Kosmischen Enzyklopädie sang, und für einige kostbare Minuten schienen sie wieder auf Korinth zu sein, in einem anderen flüchtigen Moment, nicht weniger kostbar als dieser, doch seit zwanzig Jahren verloren.
12
Rahil erwachte, als das Bett zu zittern begann, und mit ihm die Wände des Zimmers. Für einen Augenblick glaubte er an eine Fehlfunktion des Mikrogravitators, der das Bett schweben ließ, aber Lucrezia, die sich neben ihm aufgerichtet hatte, sagte verblüfft: »Ein Gravitationsbeben. Das kann nur bedeuten …« Noch erklang der Gesang des Wissens im Zimmer, doch das Lied der Kosmischen Enzyklopädie fand ein plötzliches Ende, als Lucrezia sagte: »Zimmer, Infomodus. Was ist geschehen?«
Alle vier Wände verwandelten sich in Darstellungsbereiche, die den Planeten Kedra, das Habitat der Ereignis- Flüchtlinge und, aus einer Entfernung von zwei Lichttagen herangezoomt, die vier
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