Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
bin, dass dies mein Schmerz ist, muss ich verstehen, dass ich hier bin und dort jemand anderes «anfängt».[ 24 ] Ich empfinde einen Schmerz – was per definitionem ein Zustand ist, den man grundsätzlich eher verlassen will[ 25 ] –, und weiß: Der Schmerz eines anderen ist für ihn genauso real und unerwünscht wie meiner für mich. Im Grunde liegt hier schon der Keim zu einer Idee der Gleichheit aller: Es gibt keinen Grund, warum ein empfindungsfähiges Lebewesen mehr wert sein sollte als ein anderes, und damit ist auch kein anderes weniger wert als ich.
Von Rechten und Pflichten
Nicht jeder Schmerz stellt eine Herausforderung an unsere Moral dar, nicht jedes Leiden, nicht jeder Tod. Im Alltag tun wir zwar ohnehin wenig, um das unglaubliche Elend, dasunter den Menschen und Tieren dieser Welt herrscht, aktiv zu vermindern; aber sobald wir abstrakter darüber nachzudenken beginnen, kriegen wir uns vor theoretischer Hilfsbereitschaft oft gar nicht mehr ein. Folglich nehmen viele Menschen an, Moral bedeute, alles Elend aus der Welt zu schaffen.
Das ist ein Missverständnis. Moral muss und kann gar nicht alles Leid beseitigen. Völlig richtig schreibt Ursula Wolf, kein Mensch habe ein absolutes Recht «auf Gesundheit oder Freiheit von Krankheiten».[ 26 ] Auch nicht auf Errettung vor dem Tod, denn Krankheit und Tod gehören zum Leben. Als Gemeinschaft entscheiden wir nur (und auch nur in gewissem Umfang) darüber, wie viel Krankheit und ein wie früher Tod zum Leben gehören.[ 27 ] Dabei entscheiden wir aber nicht so sehr über die Krankheiten selbst als vielmehr über den Zugang zu den Ressourcen, die vor Krankheiten schützen oder sie bekämpfen helfen: Wissen, Medikamente, Einrichtungen, personelle Unterstützung. Wir regeln mit der Moral nicht das Verhältnis des Menschen zur Krankheit (das tut die Medizin), sondern das Verhältnis der Menschen zueinander. Oder, wie Christine Korsgaard sagt: «Der Gegenstandsbereich der Moral ist nicht, wie wir die Welt gestalten sollen; sondern wie wir mit anderen interagieren und uns zu ihnen in Beziehung setzen sollen.»[ 28 ]
Dabei fügen wir anderen auch manch weiteres Leid zu, obwohl es vermeidbar wäre – und ohne dass dies automatisch verwerflich wäre. Denn natürlich haben wir auch ein Recht, unsere eigenen Interessen zu verfolgen und sogar zu bevorzugen. Zum Beispiel bewerben wir uns um eine Wohnung oder um einen Job und freuen uns, wenn wir Erfolg haben – selbst wenn wir wissen, dass eine Mitbewerberin Wohnung oder Job so dringend will und braucht wie wir. Moral verlangt nicht,
nur
im Sinne anderer zu handeln, sondern die Interessen anderer miteinzubeziehen und uns in adäquater Weise mit ihnen abzustimmen.
Ublicherweise verwenden wir für dieses moralische Sich-in-Beziehung-Setzen das Konzept der «Rechte» und «Pflichten», zumindest im Rahmen moderner westlicher Ethiken. Ganz alltäglich und selbstverständlich gehen wir davon aus, dass Individuen bestimmte Rechte haben, zum Beispiel auf Selbstbestimmung, auf Unversehrtheit, auf Eigentum und darauf, nicht über die Realität getäuscht zu werden. Dem entsprechen auf Seiten der moralischen Subjekte Pflichten – etwa die Grenzen des anderen zu respektieren, seine Unversehrtheit zu wahren, ihn nicht zu bestehlen oder zu belügen. Den Rechten (der moralischen Objekte) korrespondieren Pflichten (der moralischen Subjekte).
Intuitiv ist das leicht nachzuvollziehen. Das Konzept solcher Rechte philosophisch zu begründen ist bereits schwieriger. Zu Beginn der modernen politischen Philosophie im 17. und 18. Jahrhundert hat man vor allem versucht, Bürger- und Menschenrechte als Naturrechte zu begründen und damit vom rein faktischen Recht des Stärkeren abzugrenzen. Die Philosophen der frühen Aufklärung argumentierten, dass es ein Naturrecht gäbe, das dem Menschen bestimmte Güter garantiere, egal, welche konkrete Verfassung oder welcher Despot sie ihm streitig machen könnten. Allen voran die Freiheit: «Der Mensch ist frei geboren», konstatierte Rousseau. Die Idee des Naturrechts verfolgte also progressive Absichten und war zur Verteidigung der Bürger gegen absolutistische oder sonstige Willkür gedacht.
Allerdings ist die Idee eines solchen in der Natur verankerten Rechts nicht nur sympathisch, sondern auch heikel. Was Natur ist, ist zunächst einmal reine Empirie; dass etwas von Natur aus irgendwie verfasst ist, heißt noch lange nicht, dass es auch gut ist. Die natürliche Welt kennt schließlich kein
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