Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
«gut» oder «schlecht», sondern ob etwas gut oder schlecht ist, muss erst mit (menschlichen) vernünftigen Argumenten begründet werden. Ein Naturrecht sieht sich also diesem grundsätzlichen Einwand ausgesetzt: Wie soll etwaskomplexes Gedankliches wie ein Recht oder ein Rechtsgut quasi automatisch in der empirischen Beschaffenheit eines natürlichen Zustandes liegen?
Dieses Problem hat ein theologisch begründetes Recht nicht. Wenn mit «Gerechtigkeit» eigentlich «Gottes Gerechtigkeit» gemeint ist, hat Gott die Attribute gut und schlecht in die Welt gebracht. Es liegt auf der Hand, dass theologische Begründungen wiederum ihre eigenen Probleme mit sich bringen, allen voran natürlich die Frage: Wie beweist man nun Gott? Und wie seine Verbindung zur Gerechtigkeit? Wieso sollen sich auch diejenigen Menschen ans Recht halten, die nicht an Gott glauben? Und so changierte die Idee insbesondere des Freiheitsrechts des Menschen lange (und bis in die Formulierung vieler moderner Verfassungen) zwischen einem rein naturgegebenen und einem von Gott hergeleiteten Naturrecht.
Es gehört zur epochalen Leistung des aufklärerischen Philosophen Immanuel Kant, die zuvor als natürlich oder gottgegeben geltenden Ideen in eine dem Menschen einsichtige und vernunftmäßig überprüfbare Form transformiert zu haben. Kant gab auch der Idee des Naturrechts eine neue Wendung, die ihr aus dem oben genannten Problem heraushalf. Er verlagerte – wenn ich ihn hier fast unverzeihlich grob zusammenfassen darf – die Idee des Rechts von der Natur in die menschliche Vernunft. Moral folgt nicht aus der Natur, sondern wir kommen laut Kant gleichsam zwangsläufig bei ihr an, wenn wir den Bewegungen unseres Denkens konsequent folgen.
Diese Auffassung vertreten auch viele heutige Philosophen: Die Verbindlichkeit der Moral, aber auch anderer vernünftiger Überlegungen, verdankt sich demnach der Tatsache, dass im Grunde jeder, der scharf genug nachdenkt, ihren Grundsätzen zustimmen muss. Es gibt einen gewissen Zwang oder Automatismus der Vernunft, auch wenn dies kein rein faktischer Zwang oder Automatismus wie der derSchwerkraft ist. Vom «eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments» spricht zum Beispiel Jürgen Habermas.[ 29 ]
Das Problem hiermit ist nun wieder, dass mit Vernunft anscheinend etwas Über-Historisches und Transkulturelles gemeint ist. Das ist einerseits ehrenhaft und naheliegend. Andererseits zeigen Ideengeschichte und Anthropologie, ja schon der Blick auf den Pluralismus in modernen Gesellschaften, dass unsere Vernunft so einheitlich und zwingend nicht ist. Wenn Philosophen eine gewisse Zwangsläufigkeit der Vernunft konstatieren, müssten sie dann nicht auch erklären können, wieso eine so große Menge von Zeitgenossen sozusagen in der «Wirrnis» anderer Meinungen befangen bleibt – sind all diese Menschen einfach «defekt»? Oder wieso hat der eigentümlich zwanglose Zwang seine Kraft bei ihnen verloren? Anders gesagt: Als je stärker und zwangsläufiger und verbindlicher man die Vernunft und die daraus folgende Moral auffasst, desto größer wird die Kluft zur Empirie der tatsächlichen Meinungsvielfalt. Man könnte sich an der Vorstellung einer wahrhaft wahren und verbindlichen Moral erfreuen – leider gäbe es aber nur wenige Individuen, die von ihr ebenfalls überzeugt wären.
Es ist also nicht so leicht zu erklären, wo Rechte ihren Ursprung haben: in der Natur, bei Gott oder in der (allgemein menschlichen?) Vernunft. Für wen sich all das verwirrend anhört, der befindet sich in bester Gesellschaft. Die britische Philosophin Mary Midgley schreibt über den Begriff des Rechts: «Das ist ein hoffnungslos unklarer Ausdruck. Wie jede Bibliografie politischer Theorie bestätigen wird, befand er sich schon in großen Schwierigkeiten, lange bevor Tiere zu seinen Problemen hinzugefügt wurden.»[ 30 ] Das ist immerhin ein Trost: Es sind nicht erst die Tiere, die alles kompliziert machen.
Die Tiere machen es allerdings insofern noch ein wenig komplizierter, als dadurch, dass wir sie in unsere moralischenÜberlegungen mit einbeziehen, der Unterschied zwischen den Mengen moralischer Subjekte und Objekte noch größer wird. Ich sagte es schon: Auch im Bereich der Menschen gibt es stets mehr moralische Objekte als Subjekte. Kleine Kinder, demente Alte, psychisch Verwirrte – sie alle müssen wir berücksichtigen, ganz egal, ob sie die Sache mit der Moral selbst verstehen oder nicht.
Die Mainstream-Philosophie
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