Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
moralischen Utilitarismus, die in der Tierethik auch darum so einflussreich war, weil Peter Singer, einer der ersten großen Tierethiker des vergangenen Jahrhunderts, ein Utilitarist ist. Der Utilitarismus entstand im England des 18. Jahrhunderts und hat bis heute mehrere Spielarten entwickelt; sie alle sind geradezu fixiert auf die Inhalte mentaler Zustände (positiv, negativ, Glück, Leid, Freude, Schmerz) und vernachlässigen das individuelle, unaustauschbare Subjekt des Empfindens. Schmerz soll demnach verringert und Glück vermehrt werden – das hört sich sympathisch an, bis man versteht, dass viele Utilitaristen bei ihrer Maximierungdes Glücks nicht vor den Grenzen einzelner Personen haltmachen und manche Leben als lebenswerter (freudvoller) als andere (wegen Krankheiten beeinträchtigte) bezeichnen.
Wer nicht gerade ein philosophischer Utilitarist ist, neigt meist eher zu einer intuitiven Version der Moral von Immanuel Kant. Demnach besitzt jede Person einen Eigenwert, und es wäre unzulässig, ein Individuum nur als Mittel für die Zwecke anderer individuen zu behandeln. Genau das würden wir tun, wenn wir seine Organe nach gesamtgesellschaftlicher Nutzenmaximierung verteilen würden. Es bedeutet eine spezifische, selbst bereits unmoralische Verengung des Blickwinkels, bei unserem Krankenhausbeispiel nur an die fünf fehlenden und die fünf anderswo vorhandenen Organe zu denken. Vielmehr haben wir es mit sechs Personen zu tun, von denen jede einzelne ihr eigenes Leben leben will und das Recht darauf hat.
Zumindest sehen wir das so, wenn es um Menschen geht. Gerade beim Thema des Tierversuchs neigen allerdings viele Menschen, die ansonsten nicht gerade dem Zerlegen von Individuen zum Wohle einer größeren Anzahl anderer zustimmen würden, unbemerkt zum Utilitarismus oder jedenfalls zum rein summarischen Aufrechnen von positiven und negativen Effekten. Würde man einen Menschen ausschlachten, um fünf zu retten? Niemals! Würde man fünf Tiere ausweiden für einen Menschen? In diesem Fall scheint alles plötzlich ganz anders auszusehen … Routinemäßig opfern wir buchstäblich unzählige Tiere für einen Menschen, ja sogar für einen nur potentiellen Nutzen.
Dabei handelt es sich allerdings nicht mehr um milden, sondern um recht drastischen Speziesismus. Wir machen hier nicht einen geringfügigen Unterschied, sondern verwenden völlig unterschiedliche Methoden, messen von vornherein mit zweierlei Maß – wenn wir nicht achtgeben. Wir sind nun einmal in einer Gesellschaft aufgewachsen, die enorme moralische Unterschiede zwischen Menschen undTieren macht; wir haben dieses Messen mit zweierlei Maß verinnerlicht. Aber ist es in Ordnung? Ich denke nicht. Unsere grundsätzliche moralische Sorge muss einzelnen Individuen gelten, den Zentren bewusster Empfindungen, den Subjekten ihres eigenen Lebens; da darf man nicht einfach eines opfern, ohne über dessen Rechte nachzudenken, nur weil sich seine Organe in der Waagschale der anderen so gut machen würden.
Außerdem sind wir natürlich nicht ganz unparteiisch, sondern wir Menschen haben ein gewisses Interesse an einem bestimmten Ausgang der Diskussion. Wir wollen schwere Krankheiten heilen können und hoffen – weil unsere Medizin bisher vor allem auf Tierversuchen aufbaut –, dass diese Tierversuche auch statthaft sind. Wir müssen unsere Gedanken also hin und wieder daraufhin überprüfen, ob wir denselben Sachverhalt genauso sehen würden, wenn es sich um einen Menschen, nicht um ein Tier handeln würde. Wenn wir feststellen, dass wir viel großzügiger Rechtsverletzungen zugestehen oder plötzlich zum Utilitarismus neigen, wenn es sich um Tiere handelt, dann werden wir unserem Anspruch nicht gerecht, Tiere moralisch annähernd gleich (im Sinne eines milden Speziesismus) zu berücksichtigen.
Bemühen wir nun noch einmal das Bild der Waage. Ich habe gesagt, dass es sich beim Abwägen nicht um ein rein numerisches Aufrechnen handelt. Andererseits ist klar, dass auch die Größenordnungen zählen. Wir haben bereits gesehen, dass die Verletzungen der Tiere mehr beinhalten als «nur» die Belastung mit eben jenen Krankheiten, Schmerzen oder Beschwerden, die untersucht werden sollen. Die Krebsmaus erträgt nicht nur den Krebs, sondern auch die Untersuchungen, das Leben auf engstem Raum, den frühen Tod. Damit umfasst das Leid auf Seiten des Versuchstiers bereits weit mehr als das Leid, das wir beim Menschen zu heilen versuchen. Doch von geradezu
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