Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Titel: Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilal Sezgin
Vom Netzwerk:
apokalyptischem Ausmaß ist die schiere Zahl der betroffenen Tiere. Es gibt Firmen, diedarauf spezialisiert sind, Versuchstiere aller möglichen Spezies (teils mit bestimmten Defekten) zu züchten und «auf Vorrat» zu halten. Wie es mit Vorräten so ist – wenn die Nachfrage geringer ausfällt, wird ungenutzt entsorgt.
    Auf jede Krebsmaus, die im Versuch selbst stirbt, kommen dann noch etwa zehn Mal, teils bis zu hundert Mal so viele weitere Mäuse, die bereits «verbraucht» wurden bei dem Versuch, eine Maus mit exakt dem Krebs «herzustellen», der erforscht werden soll (eine solche gentechnische Herstellung kann Jahre dauern).[ 20 ] Daher stehen hinter Tierversuchszahlen enorme Dunkelziffern. In der einen Waagschale liegen also viele, viele tote Tiere.
    Eine weitere Überlegung, warum Tierversuche nicht zulässig sind, geht in eine ganz andere Richtung und gebietet dem Bild der Waage eher im Vorfeld Einhalt: Ich denke, dass die Schmerzen und Belastungen, denen Versuchstiere ausgesetzt sind, ein Ausmaß erreichen, das jenseits dessen ist, was wir als zumutbar einstufen können. Um das zu erklären muss ich kurz ausholen: Es gibt in jedem Leben Schmerzen und Leiden. Einige davon sind harmlos, andere sind schier unerträglich. Aber manche der unerträglichen, zum Beispiel die Trauer um einen sehr geliebten Menschen, gehören leider dennoch zum Leben.
    Es gibt Momente im Leben, die sich so schlimm anfühlen, dass der Betroffene sich überlegt, ob er jetzt nicht lieber tot wäre. Eine Mischung aus Lebenserfahrung und rein biologischem Lebensinstinkt lässt uns dann irgendwie doch weitermachen, bis sich der schlimmste Schmerz gelegt, die schlimmsten Wolken gelichtet haben. Ein Motorradfahrer hat mir einmal erzählt, unmittelbar nach seinem Unfall, als er neben der Autobahn lag, habe er den Tod herbeigesehnt, so schlimm seien die Schmerzen gewesen.
    Worauf es mir ankommt: Es gibt Zustände von Schmerzen oder seelischem Leid, die jenseits der Grenze dessen liegen, was wir anderen Menschen oder Tieren absichtlich zumutendürfen. Wir dürfen uns und anderen gewisse Opfer abverlangen, wir sind bestimmten Risiken ausgesetzt, die zum Leben (oder zu unserer Lebensweise) gehören; und manchmal können wir zu anderen sagen: «Tut mir leid, dass ich dir das antun muss, aber da musst du jetzt durch.» Aber wir dürfen niemanden ohne Not und absichtlich an die Grenzen des Erträglichen oder darüber hinaus bringen.[ 21 ] (Das «Erträgliche» ist offensichtlich nicht wörtlich zu nehmen, denn ertragen muss es der Betreffende ja zumeist doch.)
    Auf dieser Intuition, und natürlich weiteren rechtsstaatlichen Annahmen, beruht meines Erachtens auch die Ablehnung der Folter als schweres Vergehen gegen die Menschenrechte. Die Folter ist ja nicht nur eine Körperverletzung und ein Zufügen von Schmerz – bereits als solche wäre sie verboten. Sondern sie besteht zumeist darin, extreme Qualen zuzufügen, und versetzt das Opfer oft in Zustände, in denen es sich den Tod wünscht. Das absichtliche und vermeidbare Zufügen solch extremer Schmerzen ist verboten, und zwar unter wirklich allen moralischen Umständen. Es gibt eben Zustände, die sich nicht abwägen lassen, bei denen es sich verbietet. In die dürfen wir andere nicht bringen. Die sind so schlimm, dass wir sagen müssen: vielleicht bis hierhin, aber nicht weiter. Was wir mit Versuchstieren machen – die gänzliche Beraubung eines normalen Lebens plus folterähnliche Zustände beim Versuch und Drumherum –, fällt genau in diese Kategorie.
Der Unterschied zwischen Tun und Lassen
    Wenn man im Zusammenhang mit Tierversuchen von einer Interessenabwägung spricht, begeht man oft – sowohl im alltäglichen wie im philosophischen Kontext – einen ganz entscheidenden Fehler. Im Stillen formulieren wir die Fragemeist sinngemäß wie folgt: Wer ist uns wichtiger, Mensch oder Maus? Oder: Hier leidender Mensch, dort leidendes Tier – wer hat nun Vorrang? Diese Frage suggeriert fälschlicherweise, wir ließen zwei individuen sozusagen auf der Nulllinie starten: Wenn ein Arzt oder Experimentator zum Beispiel die Wahl hätte, ob ein Mensch von Krebs geheilt werden soll oder eine Maus, würde er dann nicht mit vollem Recht den Menschen heilen?
    Nun, wir haben aber keine Wahl zwischen einem krebskranken Menschen und einer krebskranken Maus zu treffen. Sondern die Frage ist: Wenn wir krebskranke Menschen heilen wollen, dürfen wir zu diesem Zweck gesunde Mäuse krank machen oder krank

Weitere Kostenlose Bücher