Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
züchten und dann schmerzhaften Prozeduren unterziehen?[ 22 ] Und das ist etwas ganz anderes.[ 23 ] Der milde Speziesist sagt, dass ihm im Zweifelsfall das Überleben des Menschen mehr am Herzen liegt; doch dieser Zweifelsfall liegt gar nicht vor. Der Hauptunterschied zwischen dieser Interessenabwägung und dem oben genannten Beispiel von Bernard Williams ist: Der krebskranke Mensch und die Labormaus fallen nicht einfach aus dem Boot. Der eine fällt hinaus, aber die andere würden wir erst hinausstoßen. Noch deutlicher: Wir holen die Krebsmaus erst ins Boot,
um
sie dann absichtlich hinauszustoßen. Und die Krebsmaus ist ja an dem ganzen Geschehen nicht nur unschuldig (wie auch der Kranke), sondern zunächst sogar gänzlich unbeteiligt!
Wenn wir diese Fälle gleich behandeln, übersehen wir völlig die Unterscheidung zwischen Tun und Lassen. Dabei ist dies eine der bedeutendsten moralischen Regeln, an der wir uns tagtäglich orientieren, ohne dass sie uns unbedingt bewusst wird. In der Moralphilosophie spricht man auch von negativen und positiven Pflichten. Negative Pflichten untersagen uns Handlungen, die andere schädigen würden (nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen etc.), während positive Pflichten von uns verlangen, aktiv zum Wohl einesanderen beizutragen. In unserer westlichen, modernen Moral stehen die negativen Pflichten ganz deutlich im Vordergrund. Unsere Moralauffassung ist im Wesentlichen um die Vorstellung individueller Rechte zentriert, die durch andere Individuen nicht verletzt werden dürfen (das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Leben, Würde, Eigentum). Weniger wichtig oder häufig sind, zumal unter Fremden, Pflichten zur Hilfeleistung.
Zum Beispiel dürfen wir einem Passanten auf der Straße keine Ohrfeigen verpassen, aber wir müssen (bzw. sollten!) ihn nicht einfach so streicheln. Die Lüge, also das wissentliche Sagen einer Unwahrheit, gilt zumeist als unmoralisch, aber eine Pflicht, andere umfassend zu informieren, existiert nur in bestimmten Kontexten (im Arzt-Patienten-Verhältnis teilweise oder in engen persönlichen Beziehungen). Das Verbot des Diebstahls gilt nahezu uneingeschränkt, eine Pflicht zum Schenken nicht. Und obwohl Hilfsbereitschaft als «schöner Zug» oder «gute Charaktereigenschaft» oder auch «Tugend» angesehen wird, gibt es keine allgemeine Pflicht, großzügig und hilfsbereit zu sein.[ 24 ]
Gewiss gibt es auch Pflichten zur aktiven Hilfe, aber die sind zumeist auf drastische Fälle von Not, die wir unmittelbar mitbekommen und bei denen wir überhaupt helfen
können,
beschränkt. In einem berühmten philosophischen Beispiel sollen wir uns vorstellen, ein Professor käme an einem Teich vorbei, in dem gerade ein kleines Kind ertrinkt. Natürlich wäre dieser Professor verpflichtet, dem Kind zu helfen, auch wenn er mit dem Kind und seiner Misere gar nichts zu tun hätte. Er würde die Situation des Kindes nicht aktiv verschlechtern, wenn er weiterginge – dennoch würde er sich an dem Tod des Kindes mitschuldig machen, wenn er ihm nicht zu helfen versuchte.[ 25 ] Eine Unterlassung wäre in diesem Fall moralisch verwerflich. Dennoch: Für einen Unterschied zum aktiven Töten spricht der Umstand, dass derjenige, der aktiv ein Kind ins Wasser schubsen würde, etwasnoch Schlimmeres getan hätte als einer, der «nur» vorbeigeht.[ 26 ] Im einen Fall sprechen wir von versuchtem Mord, im anderen von unterlassener Hilfeleistung.
Vielleicht sieht man diesen Unterschied zwischen einem Übel, das wir geschehen lassen, und einem, das wir herbeiführen, an einem weniger dramatischen Beispiel noch deutlicher. Nehmen wir an, wir gehen auf dem Bürgersteig an einem Lieferwagen vorbei, zwei Studenten ziehen um, und sie heben viel zu schwer an einem Sofa. Nun wäre es sicher nett, wenn wir helfen würden, das Sofa hochzutragen. Aber niemand könnte uns einen Vorwurf machen, wenn wir weitergingen. Weil es sich nicht um einen Fall von großer Not oder Lebensgefahr handelt, haben wir nicht die Pflicht zur Hilfe.
Die beiden Studenten hingegen absichtlich bei ihrem Tun zu behindern, oder, während sie sich unten mit dem Sofa abplagen, im Treppenhaus hoch zu laufen und eine mühsam hochgeschleppte Kiste wieder herunterzutragen, wäre zwar nicht gerade das, was man ein Kapitalverbrechen nennt, aber moralisch eindeutig nicht in Ordnung. Auch hier dürfen wir, obwohl keine Lebensgefahr entstünde, die Situation anderer nicht verschlechtern; das zeigt die zentrale Bedeutung
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