Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Überlegungen genau dafür da, uns Orientierung und Entscheidungshilfe zu geben, wo etwas auf dem Spiel steht.
Befinden sich die Eltern eines kranken Kindes aber nicht in genau solch einer Williams’schen Situation, wo jeder es verstehen würde, wenn ein anderer einfach das (oder denjenigen) verteidigt, der ihm oder ihr am liebsten ist? Möglicherweise, aber es ist nun einmal ein entscheidender Unterschied, wie sich ein Einzelner in einer Extremsituation verhält und welche Regeln sich die Gesellschaft als Ganze gibt.
Erinnern wir uns an die Entführung und Ermordung Jakob Metzlers im Jahr 2002. Der Täter wurde gefasst, gestand die Entführung, nicht aber den Ort, an den er den Entführten verbracht hatte. Es sah so aus, dass es von seiner baldigen Auskunft zum Verbleib des Jungen abhängen könnte, ob man diesen lebend finden würde. (Unglücklicherweise war er zu dem Zeitpunkt bereits ermordet.) In dieser Situation ließ der damalige Frankfurter Polizeipräsident Daschner dem Täter durch einen Kommissar Folter androhen. Das war ein Rechtsbruch, für den er milde verurteilt und seines Amtes enthoben wurde. War sein Handeln moralisch dennoch «in Ordnung», oder nicht zumindest verständlich?
Tatsächlich war sich Daschner selbst darüber im Klaren, eine «unverzeihliche» Rechtsverletzung begangen zu haben, und kooperierte bei deren Aufklärung. Man wird der Situation wohl nicht gerecht, wenn man sie eindeutig als falsch oder richtig zu beurteilen versucht; vielmehr wurde Daschner Opfer eines tragischen Dilemmas. Manchmal bringt einen das Leben in eine Situation, in der jede Lösung irgendwie falsch ist. So kam Daschner in eine extreme Situation, in der er tun «musste», was eigentlich falsch war, und später die Konsequenzen trug. (Wohlgemerkt: Er hatte nicht gefoltert, sondern dies nur angedroht.) Daher ist es nicht unlogisch, Verständnis für Daschners einmalige, ausnahmsweisegetroffene und zugegebenermaßen rechtswidrige Entscheidung zu äußern und dennoch weiterhin am absoluten Folterverbot im Rechtsstaat festzuhalten.
Medizinische Tierversuche jedoch sind keine extremen, seltenen Ausnahmesituationen, in denen uns tragische Umstände zwingen, ein einziges Mal das Recht zu beugen. Wenn wir über Tierversuche sprechen, beurteilen wir nicht die Tat eines Einzelnen, sondern wir sprechen darüber, ob sich eine Gesellschaft als Ganze Institutionen schaffen soll, in der regulär und ganz legal größte Schmerzen zugefügt werden. Es ist eben nicht die eine Mutter oder der eine Vater im Versuchslabor, der sich überlegt, eine Maus zu töten, um das kranke Kind im Nebenzimmer zu heilen. Es ist zudem ein Unterschied, ob man dieser Vater respektive diese Mutter
ist –
oder jemand Drittes. Es wäre – hypothetisch gesprochen – völlig selbstverständlich, wenn die Mutter eines kranken Kindes auf die Leiterin eines Universitätslabors zuginge und diese auf Knien anflehte, doch bitte eine Ausnahme zu machen und Tierversuche im Dienste der Bekämpfung der Krankheit ihres Kindes zu machen.
Tatsächlich bitten Eltern andauernd professionelle Vertreter von Institutionen um Ausnahmen, und ob es statthaft ist, solch einer Ausnahme zuzustimmen, hängt vom jeweiligen Fall ab. Nur: Regeln, Gesetze und moralische Gebote sind natürlich genau dazu da, den sehr persönlichen und verständlichen Wunsch eines Betroffenen in seiner Wirkung einzudämmen, ihm Grenzen zu setzen – dort, wo die Rechte anderer verletzt wären.
Und wenn wir selbst es sind, die in einer bestimmten Situation zu entscheiden haben, ob wir um der eigenen Gesundheit willen von Tierversuchen profitieren wollen? Wenn wir Medikamente nehmen, für die Firmen bezahlt werden, die ständig weitere Tierversuche durchführen? Ich denke, dass diese Situationen geradezu lehrbuchartige Versuchungen darstellen – und wie immer ist das Einwilligen in dienicht rechtmäßige Handlung umso verständlicher, je größer die Versuchung ist. Bei Arzneimitteln haben wir ja zumeist gar keine Wahl, im Sinne eines Konsumboykotts die tierversuchsfreie Marke zu wählen. Der politische Effekt einiger weniger (zudem nicht-öffentlicher) Konsumverweigerer, die gänzlich auf Medikamente verzichten, fällt wohl angesichts des riesigen Pharmamarkts insgesamt nicht ins Gewicht.
In diesem Fall, denke ich, sollte sich der Einzelne nicht zu viel abverlangen. Es ist bedauerlich, sogar tragisch, dass wir in einem System leben und von ihm profitieren, das auf solchen Qualen aufbaut; aber
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