Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
dieses moralischen Gebots.
Zugegeben, wie die meisten begrifflichen Unterscheidungen ist auch die zwischen Tun und Lassen oder zwischen negativen und positiven Pflichten nicht absolut. Es gibt Grenzfälle und fließende Übergänge. Oft ist Lassen eben auch Tun, zum Beispiel wenn wir weghören oder wegsehen; und es kann gut sein, dass wir zum Beispiel gegenüber den Hungernden in anderen Teilen der Welt viel mehr Verantwortung haben, als unser bürgerliches Verständnis von Diebstahl uns weismachen will (Hauptsache, du nimmst ihnen das Geld nicht direkt aus der Tasche!). Doch die entscheidende Konsequenz aus der Unterscheidung zwischen Tun und Lassen ist nicht etwa, dass wir niemals helfen müssten, sondern dasswir in noch viel stärkerem Maße und gegenüber einem viel breiteren Kreis von anderen verpflichtet sind, deren Situation zumindest nicht zu verschlechtern.
Tierversuche sind geradezu ein Musterbeispiel für diesen Unterschied zwischen negativen und positiven Pflichten. Am Beispiel der Krebsforschung: Auf der einen Seite steht ein schädigender Prozess innerhalb eines lebenden Organismus selbst, nämlich das bösartige Wuchern von Krebszellen; dieser Prozess wird nicht absichtlich von außen in Gang gesetzt, sondern gehört gewissermaßen zur Tragik biologischen Lebens und Sterbens von uns allen, Mensch und Tier. Auf der anderen steht ein wissenschaftlicher und auch ökonomischer Apparat, in dem gänzlich unbeteiligte Individuen herangezogen und krank gemacht, teilweise als Knock-Out-Mäuse mit einem bestimmten Gen-Defekt gezüchtet oder als «vormontierte» Tiere verkauft werden, denen Sinnes- oder Organfunktionen wegoperiert wurden.
Im einen Fall fragen wir uns also: Inwieweit können wir Menschen helfen, die von dem schmerzhaften und tragischen Geschehen einer schweren Krankheit betroffen sind? Und im anderen: Wie viele Rechte gänzlich unbeteiligter Tiere[ 27 ] dürfen wir um unserer menschlichen Interessen willen beschneiden? Und es handelt sich eben um immense, aktive Eingriffe in sämtliche Rechte von Tieren (auf Leben, Unversehrtheit, Schmerzfreiheit etc.). Selbst wenn man einem milden Speziesismus folgt, demzufolge Tiere doch «etwas weniger Rechte» haben, muss man zugeben, dass die Rechtsverletzungen bei Tierversuchen schlicht gewaltig sind.
Die Inhalte beider Waagschalen unterscheiden sich also eklatant. Gewiss dürfen wir von jeder Gesellschaft, jedem Staat ab einem gewissen Kenntnisstand und Wohlstand den Schutz vor Krankheiten und die Heilung erwarten. Wo vorhanden, muss dieser Schutz allen Mitgliedern der Gesellschaft gewährt werden. Aber dies ist ein Recht, das in seinem Umfang stark von den praktischen Möglichkeiten und Nebenkostenabhängt; wie Ursula Wolf richtig sagt, gibt es kein absolutes Recht auf Gesundheit. Hingegen ist das Recht, nicht unschuldig gequält zu werden und nicht anderen Mitgliedern der Gesellschaft geopfert zu werden, ungleich fundamentaler und nahezu absolut.
Dieses Recht darf im Grunde nur in Notwehr verletzt werden, und die Suche nach neuen Therapieformen ist keine Notwehr. Denken wir noch einmal an das Beispiel der schwerkranken Patienten im Krankenhaus. Eine Art Notwehr wäre es, dringend benötigte Blutkonserven zu stehlen, die in einem benachbarten Krankenzimmer lägen und die irgendein Gesundheitskommissar aus Geiz nicht herausrücken will. Doch einen vollkommen Unbeteiligten auf der Straße zu kidnappen, ins Krankenhaus zu verschleppen und dort ausbluten zu lassen, ist keine Notwehr, sondern eine drastische Überschreitung seiner Rechte.
Fälle von persönlicher Betroffenheit
Aber haben wir nicht vielleicht doch etwas vergessen? Haben wir nicht übersehen, dass in einer konkreten moralischen Entscheidung eines Einzelnen all diese Gründe zurücktreten könnten, und sogar verständlicherweise zurücktreten würden, wenn wir in der Situation wären, das Leben eines Fernstehenden (einer x-beliebigen Maus) zugunsten eines Nahestehenden (des eigenen Kindes) opfern zu müssen? Wird nicht in jeder Tierversuchsdebatte früher oder später der Satz laut: «Diese Argumente mögen gut und schön sein, solange man nicht betroffen ist, aber wenn es mein Kind wäre, würde ich sogar tausend Mäuse dafür morden»?
Zunächst einmal gilt natürlich für alle «harten» moralischen Entscheidungen, die dem Betroffenen etwas abverlangen, dass es leichter fällt, abstrakt darüber zu reden, als die Härte auszuhalten, wenn man der Betroffene
ist.
Allerdingssind moralische
Weitere Kostenlose Bücher