Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
richtiggehend vorzuwerfen haben wir uns die einzelnen Entscheidungen, durch die wir von Tierversuchen profitieren, nicht. – Aber vielleicht redet man sich die eigene Verantwortung auch nur auf diese Weise klein: Immerhin könnte man ja nach der Einnahme jeder Arznei der entsprechenden Firma oder dem Gesetzgeber einen Brief schreiben und wenigstens zum Ausdruck bringen, dass einen die Vorstellung entsetzt, was für diese Arznei alles geschehen ist. Oder man spendet für einen Anti-Tierversuchs-Verein, um Schritte zu einer besseren medizinischen Forschung zu unterstützen, in der Alternativen zu Tierversuchen zum Einsatz kommen. Denn die Alternative zu einer im Tierversuch entwickelten Arznei ist ja nicht: keinerlei Arznei. Sondern eben eine, die auf anderem Wege erforscht und gewonnen wurde.
Darüber hinaus gibt es nach wie vor einige wenige diagnostische Verfahren, in deren Verlauf Tiere infiziert und getötet werden; manche Medikamente werden «von» Tieren gewonnen. Und bei der Xenotransplantation ist ja exakt Sinn der Sache, dass unfreiwillige tierische Organ«spender» eingesetzt werden. Sie werden für diese Transplantationen gezüchtet – und getötet.[ 28 ] In diesem Fall ist die Linie zwischen Verursacher und Leidtragendem recht direkt: Das Schwein zum Beispiel, dessen Herzklappe man bekommen soll, wird extra für einen selbst getötet, und ein langes Leidenliegt bereits hinter ihm. Ich nehme an, dass es in einem solchen Fall moralisch korrekt wäre, sich in den eigenen Tod zu schicken, ahne aber: Wenn ich selbst in einer solchen Situation wäre, würde ich wohl eine Menge Rabulistik aufbieten, um mir zu «beweisen», dass ich die Herzklappe des Schweins trotz allem annehmen kann … Das allerdings bestätigt eher die grundsätzliche Überlegung: Gesetze sind eben auch dazu da, um solch extreme Situationen von vornherein auszuschließen bzw. individuen davor zu schützen, in solche moralischen Extremsituationen zu geraten – und vielleicht die moralisch falsche Entscheidung zu treffen, weil die richtige zu fällen in diesem Moment subjektiv zu schwer wäre.
Abschließend noch eine Bemerkung zu Ethikkommissionen und Genehmigungsverfahren, die ja das genaue Gegenstück zu solcher durch Nähe begründeten Parteilichkeit darstellen sollen. Nach dem deutschen Tierschutzgesetz sind nicht alle Tierversuche genehmigungspflichtig, sondern 14 Prozent der Versuche sind sogar gesetzlich vorgeschrieben. Andererseits ist es auch laut der EU-Tierversuchsrichtlinie so, dass ein bestimmtes Maß von Schmerzen nicht überschritten werden sollte. Zumindest heißt es in deren einleitender Darlegung von Gründen: «Aus ethischer Sicht sollte es eine Obergrenze für Schmerzen, Leiden und Ängste geben, die in wissenschaftlichen Verfahren nicht überschritten werden darf. Hierzu sollte die Durchführung von Verfahren, die voraussichtlich länger andauernde und nicht zu lindernde starke Schmerzen, schwere Leiden oder Ängste auslösen, untersagt werden.»[ 29 ] Doch trifft nicht genau das für die meisten Tierversuche, einschließlich der Vorbereitungen und Haltung der Tiere, zu? Könnte es sein, dass die Belastungen der Tiere von Gutachtern einfach zu gering eingeschätzt werden?
Die bereits erwähnte Untersuchung des Münchener Mikrobiologen Toni Lindl weist ebenso in diese Richtung wieeine Studie des Psychologen Hal Herzog, der in den USA im Auftrag der National Science Foundation erforscht hat, wie sicher die Entscheidungen der Bewilligungskommissionen sind, also wie verlässlich sie in denselben Fällen zu denselben Ergebnissen kommen.[ 30 ] Es war eine umfangreiche Studie mit 500 Wissenschaftlern, die sich einverstanden erklärten, 150 verschiedene Tierversuche mit insgesamt 50.000 involvierten Tieren zu beurteilen. Man bildete dazu jeweils zwei Kommissionen und legte ihnen dieselben Fälle vor. «In etwa 80 Prozent der Fälle hatte die zweite Kommission anders entschieden als die erste. Unsere statistische Analyse zeigt, dass die Kommissionen ihre Entscheidungen im Grunde auch per Münzwurf treffen könnten.»[ 31 ] Das wirft ein bedenkliches Licht auf die üblichen Modelle zur Abwägung, wie sie in den diversen Fachbüchern zu Tierversuchen abgebildet sind. Die Listen und Grafiken suggerieren, dass es feste Parameter gäbe, die nach klar erkennbaren Prinzipien gegeneinander abgewogen werden könnten. Doch tatsächlich scheint es sich beim Beurteilen von Versuchen eher um eine Art Roulettespiel zu handeln (dessen
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