Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Palmer sicher Recht, dass Einzelfallabwägungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Grundsätzlich aber denke ich, was das unschöne Miteinander der in der Natur lebenden Tiere angeht: Wenn jeder Löwe, jeder Raubvogel, jeder Koala und jeder gefräßige Wurm Gegenmaßnahmen erforderlich zu machen scheint, weil wir die Welt vor dem schützen wollen, was das Leben dieser Tiere nun einmal ausmacht – dann haben wir offenbar irgendetwas an diesen Tieren und ihrem Leben nicht richtig verstanden. Wenn unsere Moral es nicht erträgt, Tiere so leben zu lassen, wie sie leben, dann ist unsere Moral paradoxerweise zu egoistisch, oder ignorant. Und ich glaube, sie ist in gewisser Weise beides, weil wir das Modell, das uns fürdas menschliche Leben attraktiv erscheint, auf andere Tierarten übertragen. Die Frage ist nicht: Leben sie so, wie wir es moralisch richtig finden, sondern: Ist dieses Leben – trotz all seiner Schmerzen und Gefahren – lebenswert?
Mit lebenswert ist offensichtlich nicht die Außenperspektive gemeint, sondern wie es sich aus der Innensicht darstellt. Und diese Frage, ob ein Leben lebenswert ist, lässt sich nicht allein anhand eines singulären Moments entscheiden, sondern nur an der Gesamtheit der Bedingungen und «Spielregeln», unter denen es sich vollzieht. Zum Beispiel wissen auch wir Menschen, dass uns im Laufe eines Lebens eine Menge Leid erwartet und noch dazu das Risiko besteht, in sehr leidvolle, schier unerträgliche Situationen zu kommen. Auch alle Generationen vor uns haben das gewusst; aber weder sie noch wir haben kollektiv den Selbstmord gewählt. Anscheinend halten wir das Leben trotz dieses Risikos für lohnend. Vielleicht liegt dies zum Teil daran, dass wir natürlich alle hoffen, in der Lotterie der Schicksale nicht eins der schlimmsten Lose zu ziehen; aber auch bei den Generationen vor uns, deren Leid wir kennen, meinen wir doch nicht im Ernst, es sei besser gewesen, sie hätten gar nicht gelebt. Vor die Wahl gestellt, ob wir die Erde, wie sie jetzt ist, mithilfe des Drückens eines fiktiven roten Knopfes auslöschen und damit auch ein für allemal alles Leid verhindern könnten, würde sich kaum jemand für den Knopf entscheiden. Es mag pointiert klingen, aber darauf läuft die Frage von
policing nature
tatsächlich hinaus: ob wir das Bestehen dieser Welt, wie wir sie kennen, mitsamt dem biologischen Phänomen empfindungsfähiges Leben, gutheißen können oder nicht, mitsamt seinen Verletzungen und Risiken.[ 18 ]
Der Umbau der Welt, die Aufhebung allen Leidens, die Abschaffung des Todes sind nun einmal nicht die Aufgaben der Moral; falls überhaupt, wären das Projekte für eine gigantomanische Ingenieurskunst, Gentechnik oder für dieMedizin. Wie Korsgaard sagt: «Gegenstand der Moral ist nicht, wie wir die Welt gestalten sollen, sondern wie wir interagieren und uns zu anderen verhalten sollen. Selbst wenn wir die Welt nicht in einen Ort ohne Raubtiere ummodeln können, können wir es vermeiden, selbst Raubtiere zu sein; selbst wenn wir nicht den Komfort jeder Ratte und jedes Kaninchens auf diesem Planeten sicherstellen können, können wir es unterlassen, an Ratten und Kaninchen Versuche für unseren eigenen Komfort anzustellen.»[ 19 ]
Die zentrale tierethische Frage ist, wie wir mit den Tieren verfahren sollen, mit denen wir absichtlich und/oder vermeidbar in Interaktion treten. Diejenigen Tiere, die wir einfangen oder züchten und auf begrenztem Raum halten, deren Reproduktion, Nahrungsaufnahme, Sozialverhalten und Alltagsverlauf wir kontrollieren, deren ganzes Leben wir in der Hand haben und über deren Tod wir entscheiden, für die haben wir in der Tat die Verantwortung. Und die erste und wichtigste Entscheidung wäre zu sagen: Diese Leben sind nicht die unseren, wir haben keine Vollmacht für sie und wollen uns eine solche nicht weiter anmaßen. Wir werden also keine Tiere mehr fangen, verschleppen, züchten und einsperren oder töten, weil niemand das Recht hat, dermaßen vollständig über das Leben Unbeteiligter zu bestimmen.
Korsgaards obiges Zitat zeigt nochmals: Moral hat Grenzen. Wenn wir unsere Verantwortung als moralisch Handelnde ausloten, beschreiben wir diesen Verantwortungsbereich sozusagen nach innen: was wir tun sollen, nicht tun sollen etc. Wie mit jeder Grenzziehung stecken wir den Verantwortungsbereich dabei aber auch nach außen ab: Wir haben eben nicht für alles Verantwortung! Insofern bürdet uns Moral nicht nur «Zuständigkeiten»
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