Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
ohne Ende, noch dazu Schutz gegen größere Feinde. Es ist einfach unmöglich, der Natur einen so großen und verlockenden Lebensraum auf Dauer zu verwehren, denn ständig versuchen sich Individuen und Spezies auf neuem Terrain, und wenn die Bedingungen günstig sind, werden sie sich dort ansiedeln und vermehren. Auch der menschliche Körper ist übrigens nicht nur innen von (teils unentbehrlichen) Bakterien, sondern auch äußerlich von winzig kleinen Milben besiedelt.[ 12 ] Man kann vor dem menschlichen Körper kein Schild aufstellen: «Meiner! Kein Zutritt» – übrigens genauso wenig wie an den Grenzen der Städte (dazu später).
Viel grundsätzlicher jedoch sollte man sich bewusst machen, dass nicht jedes Leid, nicht jedes Problem, nicht jeder Tod in unsere Verantwortung fällt. Ja, auch wilde Tiere haben Rechte – aber nur uns gegenüber. In der Sphäre der Natur, also in einem Kontext ohne jegliche moralische Akteure, ist die Rede von Rechten sinnlos; Wildtiere haben keine Rechte gegenüber anderen Wildtieren, und sie begehen an ihnen auch keine Rechtsverletzungen. Daher sind wir auch nicht verpflichtet, Polizei zu spielen und einzuschreiten. Im Gegenteil, in den allermeisten Fällen
dürften
wir es nichteinmal: Die Löwin hat ein Recht uns gegenüber, dass wir ihr die Antilope nicht entreißen, die sie dringend braucht, damit ihre Jungen überleben. Wenn wir die Beute vor dem Raubtier schützen wollten, würden wir unsererseits eine Rechtsverletzung begehen: an dem Raubtier, das nämlich ein Recht darauf hat, sein Leben mit all den Verhaltensweisen auszuleben, die in ihm angelegt sind.[ 13 ]
Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Wir dürfen – bei allem Gewicht, das wir der Moral in unserem Verhalten beimessen müssen – nicht vergessen, dass moralisches Denken und Handeln nun einmal spezifisch menschliche Kulturtätigkeiten sind. Wir können sie nicht von anderen Lebewesen verlangen, und wir dürfen deren Wert auch nicht daran messen. Daher ist es aus einer Tierrechtsperspektive nicht nur nicht besonders progressiv, andere Tiere unseren Moralvorstellungen gefügig zu machen. Im Gegenteil bedeutet es, ihr Leben nicht zu achten, wenn wir es nur in seiner Übereinstimmung mit dem unseren zulassen wollen. Im Grunde heißt es sogar, ihnen ihr Lebensrecht als die, die sie sind, abzusprechen. Wer sagt, Löwen müssten zum Aussterben gebracht oder genetisch umprogrammiert werden, sagt damit auch, dass Löwen so, wie sie jetzt sind, ganz und gar nicht in Ordnung sind und nicht das Recht haben, so zu sein, wie sie sind.
Deswegen muss die Antwort auf die Frage, ob wir Tieren in der Wildnis helfen sollten, kein kategorisches Nein sein. Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Antwort ein eingeschränktes Nein ist. Also: Nein, wir müssen/dürfen die Natur nicht nach unseren Maßstäben umbauen, aber in manchen Fällen dürfen oder sollten wir helfen. Die amerikanische Philosophin Clare Palmer kommt nach einer sehr sorgfältigen Diskussion dieser Fragen zu dem Ergebnis, die Problemfälle seien so unterschiedlich, dass sich kaum eine Standardantwort (one
size fits all
) finden lasse.[ 14 ] Zumal wenn wir die Notlagen der Tiere direkt oder indirekt (mit-)verursachthaben. «Wo die Hilfe keinen Schaden verursachen wird und wo eine gewisse menschliche Verstrickung in das Leid der Tiere gegeben ist», meint Palmer, «sollten die Menschen helfen.»[ 15 ]
Aber gibt es überhaupt Eingriffe, die nicht selbst wieder von Nachteil für andere Tiere sind? Wir sollten jedenfalls auf der Hut sein, dass wir bei unseren Mitleidsregungen und Hilfsaktionen nicht allein unseren menschlichen Moden und Vorlieben folgen. Wir neigen nämlich dazu, denjenigen Tieren helfen zu wollen, die uns nahe stehen – meist größeren Säugetieren –, oder sonstigen Tieren, die uns gefallen. Man rettet aus dem Nest gefallene Eulenjunge – und füttert sie in Wildtierstationen mit Dutzenden von Mäusen. Das ist ethisch schwer zu rechtfertigen.[ 16 ] Während des Elbhochwassers im Juni 2013 wurden einige Male Rehe und Rehkitze vor den Fluten gerettet. Es wäre moralisch nicht richtig gewesen, das sichtbare Leid dieser Tiere zu ignorieren. Nur: Die unzähligen ertrunkenen Mäuse, Kaninchen, Bodenbrüter, Jungfüchse und -biber bleiben unsichtbar. Insofern ist die Beschreibung, dass wir während dieser Flut wilden Tieren geholfen haben, nicht ganz zutreffend, sondern eher: Wir haben verschwindend wenigen Tieren geholfen.[ 17 ]
Daher hat
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